Zu meiner Zeit, als Lillifee noch nicht alles in Rosa tauchte, schauten kleine Mädchen sich begeistert die bunten Illustrationen in Märchenbüchern an. Ich auch. Ich hatte ein Buch von Hans Christian Andersen, in dem besonders schöne Prinzessinnen zu finden waren – mit traumhaft langen, gebauschten Kleidern und kunstvoll drapierten Frisuren. Schleifen, Rüschen, Bänder und Stickereien zierten ihre Röcke. Schärpen, Schleppen und filigrane Kronen aus Gold und mit Edelsteinen trugen sie bei Festen im Schloss und zur Hochzeit. Zierliche Schnabelschuhe mit Absätzen ließen ahnen, wie fein ihre Füßchen sein müssen – nur zum Tanzen zu gebrauchen.
Welch fantastischer Zauber in trister Nachkriegszeit, in der meine Mutter aus alten Mänteln Jacken und Röcke für mich nähte! Im Sommer bekam ich zwar Tupfenkleider, aber sie waren kurz und ließen sich nicht raffen, denn sie mussten zu Sandalen mit dicker Gummisohle passen.
Ich beneidete die Prinzessinnen. Was für ein Leben sie hatten! Reichtum um-gab sie wie eine Aura. Sie konnten beim Essen mäkeln, wurden bedient, schliefen in weichen Himmelbetten und hatten jeden Wunsch frei. Prinzen umwarben sie, kamen auf weißen Pferden von weit her geritten, erlösten sie aus hundertjährigem Schlaf, kämpften gegen Drachen, bestanden drei Mutproben, und dann war Hochzeit. Nie dachte ich darüber nach, was aus dem schönen und edlen Paar wohl geworden ist, denn: Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.
Als Kind hörte ich von den Erwachsenen oft: Wenn du dich nicht so und so benimmst, dann bekommst du keinen Mann. Obwohl ich mich nie so und so benommen hatte, bekam ich einen Mann. Allerdings war es kein Prinz.
Meine Wunschprinzessin hatte natürlich goldblondes Haar, lang und gelockt. Da konnte ich leider nicht mithalten. Also band ich mir ausrangierte Gardinenschals um den Kopf, die so lang waren, dass sie die Rolle der Schleppe gleich mit übernehmen konnten.
Ich erinnere mich nicht mehr, was wir, meine Freundinnen und ich, damals eigentlich gespielt hatten. Wahrscheinlich war das Verkleiden das Wichtigste. Dabei träumten wir von Edelsteinen, Schatztruhen und schönen Prinzen. Heimlich stöckelten wir in Mutters Absatzschuhen umher, suchten in ihren Taschen nach Lippenstiften und freuten uns über jeden Flitterkram, der damals nicht allzu üppig vorhanden war. Vor dem Spiegel probierten wir kneifende Ohrclips und Modeschmuck aus Mutters Schatulle an. Tücher und Bänder aus dem Nähkasten konnten wir immer gebrauchen. Wir knoteten und knüpften, bis alles passte.
Zwar sagte meine Großmutter gern: »Es bringt Unglück, wenn Mädchen in den Spiegel schauen.« Aber das glaubten wir ihr nicht, denn sie besaß selbst einen Wandspiegel, der bis zum Boden ging und einen dicken, goldfarbenen Rahmen hatte. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« – das war unser Motto. Und jede von uns war – in ihren eigenen Augen – die Schönste.
Heute ist meine vierjährige Enkelin jeden Tag Prinzessin. Sie trägt eine Krone und einen rosa Glitzerrock aus Tüll – sogar beim Einkaufen, in der Kita und wenn sie mich besuchen kommt. So findet sie sich schön, und ich spiele ihr Spiel mit, decke den Tisch königlich, putze das Silberbesteck, krame zusammen, was glänzt, und beglücke sie.
So wiederholt sich alles, und ich entdecke die Märchenwelt neu. Was für ein Glück!
Dagmar Arzenbacher