Es war an einem herrlichen Frühlingsmorgen in einem dieser Wohngebiete Berlins, in dem die Kleinkinder in trendigen Boogaboo-Kinderwagen an schon gut besuchten, hippen Coffee-Shops vorbeigleiten, geschoben von stylisch-seriös gekleideten Vätern oder Müttern der Sorte Menschen, die sich vor nichts fürchten außer dem Verpassen: den pünktlichen Beginn des Morgenkreises verpassen, das nächste erfolgversprechende Mandat verpassen, beim Kind die sensible Phase für den Drittspracherwerb verpassen oder die am loftigen Berlin-Mitte-Office nächstgelegene Parklücke verpassen und mit dem unhandlichen Roadster Runde um Runde um den Block fahren müssen.
Ich war auf dem Weg zum Kinderladen »Freche Früchtchen« oder »Frische Fröschchen«, hatte außer dem Kitanamen auch Hausnummer, vereinbarte Uhrzeit und Einstiegsfrage vergessen und deshalb Angst, etwas verpasst zu kriegen: den Anranzer meines Lebens? Ganz schön unprofessionell, lieber Kniefel, dachte ich noch, als ich endlich den bunt dekorierten Eingang der Ladenwohnung entdeckt hatte.
Keine fünf Minuten später sitze ich im engen, aber gemütlichen Büro der Elterninitiativ-Einrichtung, mir gegenüber zwei gut gelaunte Pädagoginnen namens Sabine (»Aber jeder kennt mich als Bine«) und Susanne (»Aber alle nennen mich Sanne«). Eine dritte Kollegin namens Michaela (»Aber ich reagiere fast nur noch auf Ela«) verlässt gerade die Einrichtung zwecks Fortbildungsbesuch, während die vierte Kraft, Monika (»Komisch, die heißt immer noch für alle Monika«), krank ist. Auf meine Frage, ob ich angesichts dieser Personalsituation nicht ungelegen komme, zumal die klassische Angebotszeit eben begonnen hat, winken die beiden Pädagoginnen nur belustigt ab: »Auf keenen Fall! Die Schildkrötengruppe betreut heute die Musikpädagogin von ›Young Klang‹, und die Eidechsen sind heute bei – na warte mal, heut ist Mittwoch, da ist doch – richtig, ich hab’s: Die sind heut bei Eileen von ›Billy Bilingual‹, die macht mit denen Frühenglisch. Wir ham jetzt janz viel Zeit. Wat woll’n Se wissen?«
»Mich interessiert die Sache mit den Bildungsangeboten. Also, dass Sie da Leute reinholen…« Uff, da ist mir doch schnell eine gute Frage eingefallen! »Ich möchte gern wissen, welche Angebote Sie nutzen und ob der Impuls dafür von Ihnen kam oder von den Eltern?«
Bine und Sanne erzählen, dass »ihre Eltern« natürlich »jede Menge fordern«. Dass sie schon von daher recht offen sind für Unterstützung durch Zusatzangebote, zumal es im direkten Umfeld des Kindergartens viele Anbieter gibt, die speziell auf Kindergärten und ihren Bildungsanspruch eingestellt sind: »Da gibt es natürlich den Schwimmkurs und das Kita-Yoga. Einmal pro Woche können wir die Angebote von Art-Elier nutzen. Solche feinen Sachen wie ›Spielend Spanisch lernen‹ nutzen wir auch. Ganz begeistert sind Kinder, Eltern und Pädagogen vom Donnerstagskurs bei ‚Play Place‘, auf dem tollen Außengelände vom Indoor-Spielplatz...«
Bine fällt Sanne ins Wort: »Sie kieken so. Is ditt verkehrt?« Sie fühlt sich bemüßigt, ihre Sicht darzulegen: »Wir haben immer jemerkt, ditt wir so wenich Zeit haben für die Kinder, aber ooch zum Vorbereiten.« Sanne ergänzt: »Es ist doch nicht ehrenrührig, wenn man sich helfen lässt, von Anbietern, die spezialisiert sind und manches wesentlich professioneller hinkriegen als wir?«
»Professionelle Hilfe ist völlig in Ordnung«, beruhige ich die beiden. »Aber haben Sie keine Angst, dass die Eltern Ihre Bildungsangebote im Vergleich damit weniger wertschätzen?« Sanne blickt mich plötzlich hilflos an. Sind das Tränen in ihren Augen? Bine, die wesentlich rustikaler auftretende Kollegin, sieht mir treuherzig ins Gesicht. »Ick weeß, watt Se jetzt denken, Herr Kniefel. Aber die Eltern wollten dit nich, und die anderen warn einfach wesentlich professioneller. Kurzum, wir machen keene eijenen Anjebote mehr! Uff, jetzt isset raus…«
»Gar keine eigenen Bildungsangebote?« Bine nickt ernst. »Alles durch solche Anbieter?« Sanne schaut in ihre Kaffeetasse. Rührt das längst erkaltete Getränk um. Stille. Ich starre betreten auf das Regal für die defekten Holzspielzeuge. Zum Glück klingelt es jetzt: »Ick jeh mal Frau Schneider aufmachn«, sagt Bine leise.
Frau Constanze Schneider, die Esspädagogin, betritt wenig später den Mittagsraum. »Macht Frau Schneider auch ein Bildungsangebot, jetzt – zur besten Mittagszeit?«
»Nicht direkt. Die Eltern waren immer mal unzufrieden mit der Art und Weise, wie wir die Kinder beim Essen begleitet haben: Vermittelt ihr keine Tischmanieren, haben sie gefragt. Wir haben gesagt, dass wir keine Zehnkämpfer sind, und Essenbegleitung ist bestimmt nicht unsere Hauptaufgabe. Letztendlich haben wir eine gute Variante gefunden: Die Conni Schneider vom Anbieter ›Happy Meal‹ begleitet die Kinder nun professionell, aber auch sehr spielerisch beim Essen.«
»Unsere Kleenen ham richtich Spaß am Mampfen! Und die Jroßen zeijen uff eenmal sowat wie – Tischkultur«, ergänzt Bine, die manchmal auch Binchen genannt werden darf.
»Letztendlich kamen wir nur durch die gute Zusammenarbeit mit der Frau Schneider in Kontakt zu den ›Sleep Wells‹ mit Ansgar Reisinger, ohne den die Kinder nicht mehr schlafen gehen...«
»Ansgar wer? Was macht der? Das müssen sie mir erklären!«
»Na, unser unersetzlicher Einschlaf-Begleiter! Wie der selbst die wachsten Knöpfe in den Schlaf kriegt: Kein Vergleich zu unseren unbeholfenen Bemühungen! Der kann alleine 22 unterschiedliche Schlaflieder! Kein Wunder, dass unsere Kinder erst nach dem Mittagschlaf so richtig zu gebrauchen sind, so ausgeruht sind die dann.«
»Und für Sie ist es sicher toll, mit den hellwachen Kindern den Nachmittag zu verbringen...« »Na ja, theoretisch schon. Praktisch kriegen wir die Kids in dieser Zeit eher indirekt mit. Außer unsere gute Regina – darf ich vorstellen?«
Eine blonde Frau mit offenem, herzlichem Lächeln betritt den Raum und schüttelt meine Hand. »Regina Häuser! Ich bin Freispielpädagogin: Und unser Verein ›Free Play Afternoon‹ besucht Kindergärten und hilft ihnen bei der Gestaltung der oft vernachlässigten Freispielzeit. Ich könnte ihnen darüber Sachen erzählen, aber…« Sie blickt zur Uhr, deren dicker Zeiger in Form einer Mohrrübe gerade auf einen mit einer lustigbunten Zwei beschrifteten Apfel gleitet: »Ich muss jetzt gleich Selbstbetätigungsanreize schaffen, die Nicht-Schläfer warten schon!«
»Und Sie«, nehme ich das Gespräch mit den beiden Kolleginnen, die ab und zu einen Blick auf die begeistert spielende Meute werfen, wieder auf, »gestalten dann sicher aktiv die Abholsituation, schließlich eine Schlüsselsituation, um den Eltern Eindrücke über den gemein-…, äh, teilweise gemeinsam verbrach-… Ähm, über die schließlich gleichzeitig verbrachte Zeit mitzuteilen?«
Beide zucken resigniert mit den Achseln: »Würden wir gerne! Aber die meisten Kinder werden bei uns inzwischen von ihren Nannys abgeholt, sodass die Eltern eher indirekt Bericht erstattet bekommen. Im Grunde schade, aber andersherum betrachtet: Die Nannys agieren einfach deutlich professioneller in der Abholsituation. Sind halt Leute vom Fach...«
Bine erhebt sich ächzend vom Bürostuhl und murmelt etwas von eingerosteten Knochen. »Mensch, schon wieder’n Tach rumjebracht…« Während sie im hinteren Bereich ihre bequeme Berufsbekleidung mit einem lässigen Feierabend-Look tauscht, wende ich meinen Blick höflich dem Fenster zu und beobachte vor der Kita einen respektabel gebauten Cabriofahrer, der sich leichtfüßig dem Gebäude nähert und Bine zuwinkt. »Nett, dass Ihr Gatte Sie nach der Arbeit abholt«, versuche ich mich im Smalltalk. »Mein Jatte?« schmunzelt Bine, während Sanne kichert. »Nee, der holde Jemahl hat erstens keene Zeit und zweetens ooch keene Lust. Drittens will ick dem nach’m anstrengenden Tach nicht gleich als erstet bejegnen – bei aller Liebe! Ditt hier«, sie klopft dem mittlerweile eingetretenen Adonis auf den Brustkorb, »ist der Schack-Scherohm vom Escort-Service ›Nice Afternoon‹! Wie soll ick sagen..« Bine errötet sympathisch, als Jack-Jerome sanft an ihrem Ohrläppchen zu knabbern beginnt. »Der iss im Vergleich zu mei’m Männe einfach wesentlich ... pro-fess-jo-neller!«
Achim Kniefel
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/08 lesen.