Zu Besuch im Katholischen Familienzentrum
Dass offene Arbeit auch bedeuten kann, als Redakteurin des Praxisjournals Betrifft KINDER frei durch eine Einrichtung mäandern zu dürfen, erlebt Jutta Gruber und würde dem nordöstlich von Darmstadt gelegenen Katholischen Familienzentrum – Kindertagesstätte St. Sebastian allein dafür gleich noch mal den Deutschen Kita-Preis verleihen. Ein Beitrag übers Begleiten und Loslassen, miteinander Lernen, Leben und Wachsen.
Es ist früh am Tag, als ich die Scheiben meines Autos vom Eis befreie, und reichlich frisch. Die ersten Sonnenstrahlen sind bereits stark genug, den zarten Morgennebel noch während meiner kurzen Fahrt in die kleine Gemeinde Eppertshausen aufzulösen. Es herrscht Frühlingsstimmung, als ich um 8.00 Uhr das Katholische Familienzentrum – Kita St. Sebastian betrete. Ich folge damit der Empfehlung von Leitung Veronique Braun, früh da zu sein, um zu erleben, vor welche Wahl die Kinder schon beim Ankommen gestellt werden.
Wählen, was kommt
Im Eingangsbereich empfängt mich Dagmar Murmann, Sekretärin und gefühlt mindestens eine der guten Seelen des Hauses. Mit ihr gelange ich ins Büro, von wo aus mich Veronique Braun nach kurzem Hallo und einem Cappuccino auf die Hand Richtung Rätsels Lösung begleitet. Weit haben wir es nicht. Genau genommen nur zwei Schritte bis zum Bänkchen vor dem Büro. Von dort blicke ich auf eine Wandtafel mit vielen Informationen rund ums Thema Ernährung, deren Sinn sich mit Veronique Brauns Erklärungen rasch erschließt: »Es sind insgesamt 60 Kitakinder, die bei uns zu Mittag essen. Auf der Wandtafel sieht man die beiden Menüs, die jeweils heute und morgen im Angebot sind, wobei wir darauf achten, dass, bis auf die Kinder mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten, alle von allem essen können.« Deshalb gebe es auch kein Schweinefleisch. »Wir sind zwar eine katholische Einrichtung, nehmen aber selbstverständlich auch konfessionsfreie Kinder oder eben auch Kinder aus muslimischen Familien auf.«
Unmittelbar darunter erkenne ich die den fünf Stammgruppen zugeordneten Farben Grün, Lila, Rot, Blau und Gelb mit angeklammerten Fotos der zur jeweiligen Gruppe zugehörigen Kinder. »Hier können die Kinder mit ihrer Klammer anzeigen, ob sie um 12.00 Uhr oder um 12.45 Uhr zum Mittagessen gehen wollen und mit welcher Fachkraft bzw. welchen Kindern. Jedes Kind hat seinen eigenen Grund.« Während ich meinen Cappuccino trinke, beobachte ich, wie unterschiedlich die Kinder zu ihrem eigenen Grund gelangen. Manche scheinen in sich gekehrt, andere laufen mehrmals die Infowand auf und ab. Andere wirken, als wüssten sie bereits, wohin die Klammer soll, oder stecken sie mehrfach um. Ein Kind entscheidet sich nach anfänglichem Zögern für die Gruppe, in der noch gar kein Kind ist. Ob es die betreuende Fachkraft besonders mag oder sich nach Ruhe sehnt, bleibt meiner Fantasie überlassen.
Eigener Grund
Jedes Kind trifft seine Entscheidung in seiner Zeit, während die Eltern miteinander plauschen oder kurz eine Info im Büro abfragen. Auf eine Bringzeit will man die Familien nicht festlegen: »Unsere Empfehlung ist, vor 10.00 Uhr da zu sein, damit die Kinder gut in die Spielgruppen und den Tagesablauf finden. Letztlich aber hat jede Familie einen anderen Rhythmus. Die einen müssen früh arbeiten, die kommen gleich, wenn wir um 7.00 Uhr öffnen, die meisten kommen zwischen 8.30 und 9.00 Uhr, und für manche passt es später besser.« Eines der Kinder kommt besonders freudig an. Seine Oma sei am Vortag aus Thailand zurückgekommen und hätte ihm erlaubt, einige Mitbringsel aus der Ferne in der Kita zu zeigen. Gefolgt von einem Pulk großer und kleiner Menschen breitet es die Schätze auf einem kleinen Tuch vor der Garderobe seiner Stammgruppe aus. Während etliche Kinder, eine Mutter, deren Kind in der Eingewöhnung ist, und Veronique Braun die Köpfe über der ungewöhnlichen Sammlung zusammenstecken, geselle ich mich zu Ann-Katrin Kolb, der Fachkraft der gelben Gruppe.
Von ihr erfahre ich, dass jeder Gruppenraum einen bestimmten Bildungsbereich abdeckt. Den Rollenspielbereich würde ich im grünen und alles rund um Gesundheit und Ernährung im lila Gruppenraum im Obergeschoss finden und zusätzlich zu dem Kreativbereich im gelben Gruppenraum, in dem wir uns gerade befinden, zwei weitere im Untergeschoss: Naturwissenschaften im roten und Sprache im blauen Gruppenraum. »Wo die Kinder sein wollen, entscheiden sie frei. Wer geht, sagt Bescheid, und so können wir gut nachvollziehen, wer sich wo im Haus aufhält. Das klappt auch ganz gut.« Von ihr erfahre ich auch, dass heute ein besonderer Tag ist: »Die gelbe Gruppe hat Waldwoche, um sich dort noch mal anders kennenzulernen und neue Spielfreundschaften zu entwickeln.«
Das Katholische Familienzentrum – Kindertagesstätte St. Sebastian im südhessischen Eppertshausen wurde 1969 gegründet. Die Leitung übernahm Veronique Braun 2019 von Gerlinde Ries-Schemainda, welche dort bereits Ende der 1970er-Jahre den Situationsansatz eingeführt hatte. Die Gruppenräume der Kitakinder sind als Bildungsräume mit jeweils mehreren Bildungsbereichen gestaltet und im Sinne der offenen Arbeit für alle Kinder zugänglich. Aktuell betreuen sechs Voll- und 15 Teilzeitkräfte 115 Kita- und 20 Krippenkinder und nutzen jede Gelegenheit, den Kindern Wahlmöglichkeiten und Erfahrungsräume für Selbstwirksamkeit zu schaffen oder zu ermöglichen. Instrumente wie der Eltern- und der Kinderbeirat oder die Wünsche- und Beschwerdewände sind Grundlage für die in der Einrichtung gelebte Partizipation. Seit 2003 ist die Kita St. Sebastian Modellkita im Teilbereich »Qualität im Situationsansatz«. 2016 wurde die Einrichtung zum Familienzentrum umgewidmet, dessen Angebote – wie z.B. der Krabbeltreff, ein Still-Cafe und Rückbildungskurse – jungen Familien auch ermöglichen, sich noch vor der Eingewöhnung ihrer Kinder mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen. 2019 gewann das Team den Deutschen Kita-Preis. Auf YouTube steht unter Deutscher Kita-Preis 2019: Katholisches Familienzentrum – Kindertagesstätte St. Sebastian ein knapp zweiminütiger Imagefilm zur Verfügung, www.youtube.com/watch?v=24__zCfPFpc (10.03.24).
Kontakt
https://bistummainz.de/kita/eppertshausen/
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2024 lesen.