Albrecht Beutelspacher, der Gründer des Mathematikums in Gießen,2 erzählt folgende Anekdote über die Schwierigkeiten, die viele Erwachsene mit Mathematik haben: »›... und was machen Sie beruflich?‹ Das war die falsche Frage. Ich hatte mich seit einer Viertelstunde mit der freundlichen jungen Dame angenehm und angeregt unterhalten, wir hatten über dies und das, Politik und Politiker, Kunst und Kinder, Lust und Laune gesprochen, als sie, nicht einmal unfreundlich, diese Frage stellte. Ich versuchte, dem Unglück auszuweichen, und antwortete betont beiläufig: ›Ich arbeite an der Uni.‹ Aber das Schicksal nahm seinen Lauf: ›Echt? Das ist aber interessant! Und in welchem Fachbereich?‹ Aus, Schluss, Ende. Schade, denn die Frau war wirklich nett. Jetzt musste ich mich outen, und dann, das wusste ich aus eigener Erfahrung und Erzählungen vieler Kollegen, würde die Verbindung unterbrochen sein. Noch ein kaltes Lächeln, ein paar Höflichkeitsfloskeln und aus. Aber es half nichts, und so bekannte ich tapfer: ›Ich bin Mathematiker.‹«3
Nicht nur die Erfahrung, Mathe in der Schule nicht verstanden zu haben, sondern auch gewisse Vorbehalte gegenüber Menschen, die sich mit Mathematik beschäftigen, waren zumindest bis zum Ende der neunziger Jahre, als der Mathematikprofessor aus Gießen die Geschichte aufschrieb, weit verbreitet. Nicht zuletzt aufgrund des schlechten PISA-Abschneidens von 15jährigen deutschen Schülern in Mathematik scheinen sich die Einstellungen gegenüber Mathematik nun zu wandeln.
Angelika von der Beek über mathematisches Denken als Form der inneren Verarbeitung.
In Politik, Verwaltung und den Medien war man sich schnell darüber einig, dass man mit den Anstrengungen, Deutschland bessere PISA-Ergebnisse zu sichern, schon im Kindergarten anfangen müsste. Dabei scheint sich ein gesellschaftlicher Konsens zu entwickeln: Neues mathematisches Lernspielzeug für Kleinstkinder4 verkauft sich ebenso gut wie das an die Schule angelehnte Konzepte zur frühen mathematischen Bildung in Kindergärten5. Und Deutschland wurde im Rahmen einer OECD-Studie, in der die Qualität der frühkindlichen Bildung in 20 Ländern untersucht worden war, im Jahre 2004 bescheinigt, dass die Arbeit in den Kindertagesstätten über ein solides Fundament verfügt. Ein integriertes pädagogisches Konzept bilde die Basis der deutschen frühkindlichen Erziehung – im Vergleich beispielsweise zur angelsächsischen. Dies habe jedoch nicht – wie in anderen europäischen Ländern – zur Verschulung des Kindergartens geführt. Eine der besonderen Stärke der Kindertagesstätten in Deutschland sei der Dreiklang aus Betreuung, Erziehung und Bildung. Der Bericht warnt davor, dieses integrierte pädagogische Konzept zugunsten stärkerer Verschulung aufzugeben.6
Gerd E. Schäfer hat für das schulische Lernen den Begriff »Lernen aus zweiter Hand« geprägt. Mit dem Lernen in der frühen Kindheit verbindet er das Bild vom »Lernen aus erster Hand«.7 Beim »Lernen aus zweiter Hand« handelt es sich um Lernen als Übernahme von Wissen, das andere Menschen bereits vorgeordnet, vorgedacht und zu bestimmten Problemen erarbeitet haben. Bevor Kinder Nutzen aus diesem Wissen ziehen können, müssen sie ihre Welt aus erster Hand kennen lernen. »Lernen aus zweiter Hand« benötigt einen Kontext aus erster Hand.
Vor diesem Hintergrund unterscheidet Gerd E. Schäfer zwischen Instruktions- und Bildungsansatz. Eine der frühen Kindheit angemessene Didaktik der mathematischen Bildung muss also von expliziten Vorstellungen darüber ausgehen, wie Kinder in komplexen Alltagssituationen Erfahrungen machen und aus selbst gemachten Erfahrungen lernen. Wie sieht mathematisches Lernen aus erster Hand aus, bei dem das Kind von dem ausgeht, was es selbst wahrgenommen, bemerkt und erfahren hat? Welche Didaktik entspricht diesem »neuen Bild vom Kind«?
Bevor diese Frage beantwortet wird, soll ein kurzer historischer Rückblick Einflüsse nachzeichnen, die im Bereich der mathematischen Bildung im Kindergarten heute wirksam sind.
Zur Geschichte der mathematischen Bildung im Kindergarten
Seit fast 200 Jahren gibt es durch die Fröbelschen Spielgaben eine Didaktik der mathematischen Bildung im Kindergarten. Und spätestens seit Jean Piagets Arbeiten, die nach 1940 erschienen, ist wissenschaftlich anerkannt, dass kleine Kinder mathematisch denken können. Piaget leitete den Zahlbegriff, physikalische Mengenbegriffe, den Zeitbegriff und die kindliche Geometrie aus der sensomotorischen Entwicklung in den ersten anderthalb Lebensjahren ab.8
Trotz dieser Vorgeschichte war in deutschen Kindergärten die Auffassung weit verbreitet, dass nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Rechnen eindeutig schulische Inhalte sind. Das lässt sich zum einen damit erklären, dass das pädagogische Konzept Fröbels nicht die Grundlage der Arbeit in den Kinderbetreuungseinrichtungen vor dem 2. Weltkrieg, sondern als reformpädagogischer Ansatz die Ausnahme bildete. Auch nach 1945 verbreiteten sich die Fröbel-Materialien stärker als die damit verbundenen Ideen. Zum Zweiten gab es entsprechende staatliche Verordnungen. Beispielsweise war in den »preußischen Kindergartenrichtlinien von 1930 ... unmissverständlich festgehalten, dass im Kindergarten den Aufgaben der Schule in keiner Weise vorgegriffen werden darf«.9 Zum Dritten beeinflussten wissenschaftliche Erkenntnisse wie die Piagets erst ganz allmählich die Praxis der frühkindlichen Erziehung.
Fröbel ging davon aus, dass die geistige Entwicklung der Kinder durch die frühe Beschäftigung mit elementaren Formen von Mathematik wirksam gefördert und sie dadurch auch optimal auf die Schule vorbereitet werden würden. Ein wesentlicher Aspekt der Fröbelschen Spielgaben liegt in ihrer mathematischen Struktur. Ein anderer liegt darin, dass die Beteiligung der Erwachsenen am Spiel als unerlässlich angesehen wird. Der Erwachsene ist bei Fröbel notwendig, um die mathematischen Prinzipien aus den Spielgaben zu entwickeln.
Dass es sich bei den Spielgaben um ein ganzes System von Spiel- und Beschäftigungsmitteln handelt, »die in einem analytisch-synthetischen Konstruktionszusammenhang stehen«10, wird daran deutlich, dass Fröbel vier Gruppen unterscheidet: Erstens die körperartigen Gaben, also Ball, Kugel, Würfel und Walze. Zweitens die flächenartigen Materialien, nämlich Legetäfelchen aus Holz und Papier, das gefaltet und ausgeschnitten wird. Zur dritten Gruppe gehören linienförmige Spielmittel wie Holzstäbchen, Papierstreifen, Papierschnüre, Ringe und Halbkreise aus Metall. »Den Abschluss des analytischen Ganges vom Körper zur Fläche, über die Linie zum Punkt bilden die punktförmigen Materialien.«11 Zu den punktförmigen Beschäftigungsmitteln gehören das Prickeln oder Ausstechen, aber auch Perlen und Erbsen. Hier schließt sich der Kreis des von Fröbel und seinen Anhängerinnen entwickelten Systems. Die Punkte, die beim Ausstechen entstehen, lassen sich auf einem Zeichenkarton mit Nadel und Faden zur Linie auf einer Fläche verbinden. Ebenso zeigt sich bei Perlen auf einem Faden der Übergang vom Punkt zur Linie. Wenn Kinder eingeweichte Erbsen mit Stäbchen zusammenfügen, kommen sie vom Punkt über die Linie oder Fläche zum Körper, und es entstehen fantastische Gebilde. Den didaktischen Abschluss bildet das Modellieren mit Ton, später mit Plastilin oder Knete. Mit diesem Material kann ein Kind nun selbst eine Kugel oder einen Gegenstand aus seiner Alltagswelt formen.
Anhand dieser Beispiele lässt sich ein weiterer wesentlicher Aspekt der Fröbelschen Spielgaben erläutern. Die mathematischen, vor allem die geometrischen Erkenntnisformen stehen nicht für sich. Sie sind nicht Selbstzweck, sondern sie sind untrennbar verbunden mit dem, was Fröbel »Lebens- und Schönheitsformen« nennt. Sie ermöglichen es dem Kind mit seinen geistigen oder kognitiven Fähigkeiten, ein Empfinden für Symmetrie und für Formenvielfalt, also ästhetisches Vermögen, zu entwickeln – und zwar handelnd, im Spiel, also in der Art und Weise, die den kindlichen Fähigkeiten entspricht.
Ausgangspunkt der Pädagogik Fröbels ist das, was das Kind kann. Deshalb beruft sich die Reformpädagogik bis hin zum Bildungsansatz12 auf ihn.
Der Bildungsansatz ist keine Methode, sondern eine pädagogische Denk- und Handlungsweise, eine Haltung, die das Handeln leitet. Er beschreibt Denk- und Verhaltensweisen, die diese Haltung verwirklichen. Sie sind keinesfalls einzigartig oder neu, sondern setzen eine pädagogische Tradition fort, indem sie sie neu interpretieren.
Der Bildungsansatz geht von einem integrierten kindlichen Bildungsprozess aus. Sinnliche Wahrnehmung, ästhetische Gestaltungs- und Verarbeitungsweisen und logisches Denken sind keine nebeneinander bestehenden Funktionen, die getrennt gefördert werden, sondern wesentliche Teile eines biografisch verankerten Bildungsprozesses.
Die Philosophie des Bildungsansatzes steht im Gegensatz zu allen Verfahren, die Kindern bestimmte Kompetenzen in klar strukturierten Instruktions- und Lernverfahren beibringen wollen. Als Weise des Weltverstehens findet Bildung ständig und alltäglich statt. Von daher umfassen Bildungsprozesse nicht nur bewusst gestaltete Lernsituationen, sondern ebenso die Strukturierung der Erfahrungsräume des Alltags wie das Aufgreifen von Gelegenheiten.
Der Bildungsansatz versteht sich als eine Pädagogik, die nicht in erster Linie dazu da ist, Kindern das beizubringen, was sich Erwachsene für sie ausgedacht haben, sondern die ihnen Möglichkeitsräume öffnet.
Die Differenzen liegen also weniger im Bild vom Kind als in der Rolle, die der Erzieherin zugedacht ist. Denn Fröbel betont nicht nur die Wichtigkeit einer emotionalen Bindung zwischen Erzieherin und Kind für dessen geistige Entwicklung, sondern er beschreibt auch ganz genau, was Erwachsene in welcher Reihenfolge tun sollten, um die Sinne des Kindes und seine Wahrnehmungsfähigkeit zu entwickeln. Zugespitzt könnte man sagen, dass Fröbel zwar ein positives Bild vom Kind hat, dem er aber in seinen Handlungsempfehlungen nicht wirklich vertraut. Das lässt sich am Beispiel des Zeichnens erläutern. Zwar rät Fröbel der Mutter, dem kleinen Kind ein Stöckchen zu geben, mit dem es im Sand malen kann. Doch von dieser frühen Unterstützung der Lust der Kinder, Spuren zu hinterlassen, zur Entwicklung von Fertigkeiten im Zeichnen und Malen gibt es bei Fröbel keine Verbindung. Er hatte noch keine Theorie der »inneren Verarbeitung« beim Kind. An ihrer Stelle treten die Erwachsenen auf den Plan. Es bedarf ihrer systematischen Unterstützung, damit das Kind, wie Fröbel es sieht, vom imitierenden zum schöpferischen Lernen gelangt.
Zur Entwicklung des kindlichen Zeichnens entwarf Fröbel ein quadratisches Netz. »Mit Hilfe dieses Rasters soll das Kind ›selbstschaffend‹, wiederum ausgehend von senkrechten, waagerechten, schrägen und runden Linien, die Maßverhältnisse von Gegenständen aus Natur und Umwelt kennen lernen und so zum schöpferischen Zeichnen gelangen.«13 Wie in der Montessori-Pädagogik plant der Erwachsene die Lernschritte des Kindes voraus. Sein Wissen gibt er nicht direkt durch mündliche Instruktion weiter, sondern indirekt durch die Spielgaben, durch die immanente Systematik oder Instruktion des Materials und indem er darüber wacht, dass das Material bestimmungsgemäß gebraucht wird.
1 Titel eines Buches von Albrecht Beutelspacher. Vieweg Verlag 1996
2 Das erste mathematische Mitmachmuseum der Welt in Gießen. Nähere Informationen unter: www.mathematikum.de Nach zahlreichen literarischen Versuchen, Mathematik zu etwas für jedermann Interessantes zu machen, hat Albrecht Beutelspacher seine Liebe zur Mathematik praktisch werden lassen und ist mit der Gründung des »Mathematikums« in Gießen ungemein erfolgreich. Die Idee der »Mathematik zum Anfassen«, also interaktiver Exponate, die Besucher zum Experimentieren und Selberdenken herausfordern, zieht seit 2002 jährlich über 150 000 Besucher an.
3 Beutelspacher, A.: »In Mathe war ich immer schlecht...« Vieweg Verlag, 1996, S. 1
4 Siehe zum Beispiel das mathematische Lernspielzeug der Firma »Leap Frog«, das für Kinder ab sechs Monaten angeboten wird.
5 Siehe dazu: Entdeckungen im Zahlenland von Prof. Preiß. Ein Projekt zur frühen mathematischen Bildung, Eigenverlag 2005, 3. Auflage; Friedrich, G./de Galgóczy, V.: Komm mit ins Zahlenland. Christopherus Verlag, 2. Auflage, 2004
6 Siehe dazu: Die Politik der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Länderbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – Kurzfassung, September 2004
7 Schäfer, G. E. (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Beltz Verlag, 2005
8 Piaget, J./Szeminska, A.: Die Entwicklung des Zahlbegriffs beim Kinde. Gesammelte Werke, Bd. 3, Klett Verlag, 1975
9 Konrad, F. M.: Kindheit ist zum Lernen da. In: Welt des Kindes 5/2002, S. 10
10 Rockenstein, M.: Kindergarten. Bad Blankenburg, 2004, S.34
11 Rockenstein, M.: Kindergarten. Bad Blankenburg, 2004, S. 47
12 Schäfer, G. E. (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Beltz Verlag, 2005
13 Rockenstein, M.: Kindergarten. Bad Blankenburg, 2004, S.45
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/06 lesen.