Gastherausgeberin Irene Balaguer und Herausgeber Peter Moss stellen das Heft und sein Thema: »Die Rechte der Kinder« vor.
Diese Ausgabe von »KINDER in Europa« rückt das 20jährige Jubiläum der Annahme der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 in den Mittelpunkt.
Die Konvention ist ein Meilenstein – wenn auch nicht, woran uns diese Ausgabe erinnert, der Anfang – der Kinderrechtsbewegung, die sich seit vielen Jahren um eine neue Beziehung zwischen Kind, Erwachsenen und Gesellschaft bemüht. Natürlich ist die UN-Kinderrechtskonvention weder perfekt noch vollständig, doch sie ist trotzdem ungeheuer wichtig. (Sie finden eine Zusammenfassung auf den Seiten 6 und 7.)
Die Konvention betrachtet das Kind von Geburt an als eine eigenständige Person, einen Bürger/eine Bürgerin mit eigenen Rechten, die es verdienen, dass man ihnen zuhört und sie respektiert. Die Kinderrechtskonvention hat vieles verändert, obwohl ihr volles Potential noch längst nicht umgesetzt ist, da in zu vielen Ländern bisher viel zu wenig getan wurde, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Konvention zu schärfen und sie in den vielen Bereichen anzuwenden, in denen sie gelten sollte. Drei Fragen stellen sich der Konvention – und dieser Ausgabe von »KINDER in Europa«:
- Wie sollen wir die Rechte der Kinder, wie sie in der Konvention benannt sind, interpretieren?
- Wie können sie durchgesetzt werden?
- Und müssen wir noch weiterdenken, müssen wir über die Konvention hinausgehen?
Wie jedes politische Dokument, das die UN-Kinderrechtskonvention ja ist, wurde auch dieses entwickelt und ausgestaltet in Verhandlungen von Menschen mit sehr unterschiedlichen Motivationen und Ansichten. Es ist notwendig, die Konvention zu interpretieren – und das sind wiederum politische Prozesse. So stellt sich beispielsweise die Frage: Bedeutet die Kinderrechtskonvention das Ende der körperlichen Bestrafung, der Züchtigung, von Kindern – oder nicht? Wie steht es um die Zugangsmöglichkeiten aller Kinder zu Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Betreuung? Muss die Konvention ausgegrenzte Kinder – wie Kinder aus asylsuchenden Familien – besser schützen? Das sind Fragen über Grauzonen, die die erste Kinderkommissarin der Welt, Maalfrid Grude Flekkoy, in einem Interview in diesem Heft aufwirft.
Der Artikel von Fúlvia Rosemberg aus Brasilien macht auf ein anderes Problem aufmerksam. Kinderrechte können auf bestimmte, marginalisierte oder »von der Norm abweichende« Gruppen konzentriert werden. So werden sie zu einem weiteren Mittel, um einzelne Fragen der Jugendhilfe aufzugreifen. Doch der Konvention und der breiteren Bewegung, zu der sie gehört, geht es um alle Kinder, um Kinder als soziale Gruppe. Für sie alle ist die Kinderrechtskonvention da.
Eine Reaktion auf die Konvention war es, offizielle Stellen einzurichten, die zwar von der öffentlichen Hand ausgestattet und finanziert werden, aber doch von ihr unabhängig sind. Sie sollen den Fortschritt einschätzen, die Entwicklung vorantreiben und darüber berichten: Défenseurs des Enfants, Child Advocates, Child Commissioners, Ombudsmann (oder -frau) – sie haben viele Namen. Die meisten Mitgliedsstaaten haben solche speziell dafür eingerichteten Stellen. Doch so wichtig sie auch sein mögen, es gibt eine Grenze für das, was sie erreichen können. Noch wichtiger ist die Reaktion der Erwachsenen allgemein auf die Frage der Kinderrechte – und besonders derjenigen, die mit Kindern leben und arbeiten, vor allem der Eltern und Erzieherinnen. Wie Zlata Gunk in dieser Ausgabe schreibt: »Wie weit Kinder ihre Rechte in Anspruch nehmen können, hängt weniger vom Gesetz ab, sondern vielmehr von den Erwachsenen, die den Erziehungs- und Bildungsprozess begleiten und an ihm mitwirken.«
Trotzdem wollen wir betonen, dass beides notwendig ist: ein starker rechtlicher Rahmen und das Handeln der Erwachsenen. Die Konvention ist in jedem Falle eine große Herausforderung, nicht nur für Eltern, sondern auch für Pädagoginnen und Pädagogen. Es geht um die Herausforderung, die Rechte der Kinder anzuerkennen und zu schätzen, sie zum Teil des alltäglichen Lebens und der Beziehungen zwischen Menschen zu machen und die Gesellschaft als Ganzes wissen zu lassen, dass Kinder Rechte haben.
Die Umsetzung der Rechte ist in einigen Ländern weiter fortgeschritten als in anderen. (Und zwei müssen die Konvention sogar noch ratifizieren, darunter die USA. Wir erinnern Präsident Obama: »Yes, you can!«)
Das ist zum Teil eine Sache des politischen Engagements und des politischen Willens. Kinderrechte und demokratische Werte, die sie untermauern, sind an einigen Orten stärker anerkannt und verbreitet als an anderen. Es gibt zugleich noch viele potentielle Quellen des Widerstands, zu denen gehören auch Eltern und Pädagogen und Erzieherinnen, die den Eindruck haben, dass sich die Kinderrechte in ihre Bereiche einmischen.
Dann kommen wir zu dem Thema, das Bernard de Vos auf sehr deutliche Weise formuliert: »Armut beeinflusst alle Menschen- und Kinderrechte. Arme Familien können das Recht auf Bildung, Gesundheit und gutes Wohnen nicht voll nutzen, denn sie haben nicht die finanziellen Ressourcen dafür.« Natürlich sind die beiden Dinge miteinander verknüpft: Armut kann Rechte behindern, doch Rechte können dazu beitragen, die Armut zu bekämpfen. Die Existenz der Kinderrechte darf jedoch keine Entschuldigung dafür sein, die Schande weiterer Kinderarmut und -ungleichheit hinzunehmen, sie nicht in Angriff zu nehmen und zu bekämpfen.
Das Problem ist, die Rechte der Kinder in den Blick zu rücken und anzuerkennen, was sie können und nicht können. Maalfrid Flekkoy stellt ihre Sicht auf die Dinge vor, die auf langer Erfahrung beruht. Die Konvention, so urteilt sie, »ist sinnvoll. Man kann sie nutzen, um Argumente zu stützen, beispielsweise, wenn man eine Kampagne gegen das Schlagen von Kindern durchführt. Aber die Kinderrechtskonvention hat auch Grenzen: Sie ist nur so bedeutsam, wie die Menschen es zulassen. So ist sie zwar weitgehend ratifiziert, aber es ist heutzutage für die Kinder noch längst nicht alles okay.«
Das ist kein Grund zu verzweifeln. Die Konvention war nie eine magische Lösung, die alle Probleme wie mit dem Zauberstab löst. Das heißt nicht, dass sie unwichtig oder nicht sinnvoll wäre. Sie etabliert Positionen und Prinzipien, die in Politik, Strategie und Praxis genutzt werden können. Sie stärkt bestimmte Argumentationslinien, verleiht bestimmten Kampagnen mehr Gewicht und trägt dazu bei, das Bewusstsein von Menschen zu verändern. Doch um das Werkzeug der Konvention wirklich voll und ganz nutzen zu können, braucht es noch viel Arbeit, Fleiß, gemeinsame Erfahrungen und bessere Argumente.
Ebenso wenig sollte man die UN-Kinderrechtskonvention schon als das letzte Wort zum Thema Kinderrechte ansehen. Das Manifest der ursprünglichen Rechte der Kinder, über das Gianfranco Zavalloni schreibt, ist nur ein lebendiges Beispiel dafür, wie Rechte entwickelt und zum Bestandteil einer breiteren Diskussion über die Bedeutung einer guten Kindheit und eines guten Lebens werden.
In dieser Ausgabe
Zu einer Zeit, in der wir im Allgemeinen häufig unter einer Art von »historischer Amnesie« leiden, blicken wir zurück auf die Zeit vor der Existenz der Kinderrechtskonvention. Wir erinnern uns an die Pionierarbeit von Englantyne Jebb und die Deklaration der Rechte des Kindes von 1924, eines Vorläufers der UN-Kinderrechtskonvention. Wir erfahren etwas von der weltweit ersten Kinderkommissarin, die 1981 in Norwegen ihre Arbeit aufnahm. Und wir verlassen Europa in einem Artikel über die brasilianische Verfassung von 1988, die ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte ist. Beide Berichte über die Erfahrungen aus Norwegen und Brasilien versorgen uns mit wichtigen Gedanken über die Vorteile und Grenzen einer auf Rechten beruhenden Herangehensweise, wenn man die Lage der Kinder verbessern will.
Dann kehren wir nach Europa zurück und widmen uns einer bedeutsamen Entwicklung, wenn auch einer Entwicklung, die die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union noch gar nicht bemerkt haben wird. Nach Jahrzehnten, in denen die Europäische Union es abgelehnt hat, sich mit Kindern zu befassen, hat sie jetzt die Rechte der Kinder und ihre eigene Rolle beim Schutz und der Förderung von Kindern anerkannt. Die Europäische Union hat eine Abteilung (unit) für Grundrechte und Rechte des Kindes und wird noch in diesem Jahr die weitere Entwicklung einer Strategie über die Rechte des Kindes als vorrangiges Thema für die EU vorschlagen. Mit daran beteiligten Interessengruppen wie Eurochild und Euronet und wachsendem Interesse an dem Thema im Europäischen Parlament entsteht allmählich eine europäische Politik für die Kindheit. Jetzt ist es Zeit für Organisationen und Einzelpersonen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, sich anzuschließen und daran mitzuwirken. Dazu ein Vorschlag von »KINDER in Europa«: Die EU sollte die Perspektive der Kinderrechte innerhalb der sich herausbildenden Politik über die frühkindliche Bildung und Betreuung sichern und sie über die Ziele von Barcelona hinaus weitertragen.
Wie üblich haben wir auch in diese Ausgabe von »KINDER in Europa« eine Anzahl von Artikeln über Projekte aufgenommen, die am Gegenstand der jeweiligen Ausgabe arbeiten. In diesem Falle sind das Projekte, die die Kinderrechte in die Praxis übertragen, besonders solche, die sich dafür einsetzen, Kindern und jungen Leuten mehr Gehör zu verschaffen und für mehr Beteiligung am öffentlichen und politischen Leben zu sorgen. Ebenfalls wie in jeder Ausgabe können wir auch diesmal nur die Oberfläche dessen streifen, was in Europa vor sich geht. Zweifellos hätten wir mehrere Ausgaben von »KINDER in Europa« allein mit Berichten über solche örtlichen Aktivitäten füllen können. Und wie immer haben wir am Ende der Arbeit an der Ausgabe auch diesmal wieder das Gefühl, dass die Möglichkeiten zum europäischen Dialog, zum Austausch, für gegenseitige Anregung und gemeinsames Lernen auf diesem Gebiet – der Arbeit mit Kindern und Familien – noch längst nicht alle realisiert sind.
Den Artikel von Gianfranco Zavalloni haben wir schon erwähnt; ihn am Ende dieser Einleitung noch einmal zu nennen, halten wir für gut. Denn dieser Beitrag erinnert uns an andere mögliche Rechte: das Recht darauf, zu trödeln und sich Zeit zu nehmen, sich schmutzig zu machen. Wir müssen auf den starken Fundamenten, die wir schon haben, aufbauen, besonders auf der UN-Kinderrechtskonvention, doch gleichzeitig sollten wir andere Dinge nicht vergessen.
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