Kinder in ihrer Wut achtsam begleiten
Kinder entwickeln Wohlbefinden und eine wichtige Portion Selbstwertgefühl, wenn ihre vertrauten Bezugspersonen auf ihre Grundbedürfnisse achtgeben. Pädagogische Fachkräfte tragen die Verantwortung, Kinder in ihren Gefühlen zu regulieren und sie beim Schlafengehen, Essen und Anziehen zu begleiten. Kathrin Hohmann zeigt, wie es Fachkräften trotz hoher Arbeitsbelastung gelingen kann, kindliche Signale und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu beantworten.
»Auaaa, hör auf! Das ist mein Auto«, hört Fachkraft Lorena es aus der Bauecke schreien. Blitzartig schaut sie sich um und sieht aus dem Augenwinkel, wie Ben dem gleichaltrigen Rafael mit einem Baustein auf den Kopf haut. Rafael beginnt sofort zu weinen. Gerade hat Lorena im Gruppenbuch ein paar Informatio- nen notiert und dabei auf ihre Kollegin gewartet, die jede Minute aus der Pause zurückkommen müsste, damit die Gruppe gemeinsam aufräumen und Mittag essen kann. Situationen wie diese fordern Fachkräfte besonders heraus.
Blitzschnelles Handeln ist gefragt, ihr Einschreiten lässt sich nicht aufschieben. Sie müssen die Gefühle der Kinder regulieren, sich einfühlen und gegebenfalls eine Wundversorgung vornehmen. In solchen Momenten möchte man zu gern die Stopp-Taste drücken, um sich ausschließlich dieser Situation zuzuwenden. In Wirklichkeit geht der Spielbetrieb in der Gruppe weiter. Noch vor ein paar Monaten wäre Lorena kopflos in die Situation gegangen und hätte womöglich bereits aus der Entfernung angefangen zu rufen. Dank einer Teamfortbildung zum Thema Konflikte und Gefühle und regelmäßiger Reflexionen weiß sie nun, wie wichtig die Selbstregulation vor Co-Regulation ist. Eine Erinnerungskarte hängt an ihrem Schrank.
Die Anforderungen sind hoch
Von pädagogischen Fachkräften wird dauerhafte Präsenz, ununterbrochene Aufmerksamkeit und Konzentration gefor- dert. Sie leisten täglich emotionale Arbeit und sollen sich dauernd auf die Lebenswelt der Kinder einstellen. Das kann
zur Folge haben, dass sie ihre persönlichen Stimmungen unterdrücken, was wiederum zu eigenen Spannungen füh- ren kann. Einige Fachkräfte sind sich dieser Überforderung bewusst und wissen, dass sie nur teilweise auf die Gefühle von Kindern reagieren können.
Mein Beitrag möchte an dieser Stelle ansetzen und die Bedeutung von liebevoller Zuwendung herausstellen. Dabei müssen als herausfordernd empfundene Gefühle wie Wut und Ärger besonders in den Blick genommen werden. Wir müssen verhindern, dass Kinder, die zu begleiten einen großen Teil der Kraft der ErzieherInnen kostet, Stigmatisierung oder Ablehnung erfahren. Schon kleine Veränderungen im Alltag können Fachkräfte darin stärken, responsiv und fein- fühlig auf die Signale der Kinder zu reagieren.
Achtsamkeit lässt sich üben!
Lorena legt ihren Stift aus der Hand und atmet tief ein und aus, während sie bedacht und gleichzeitig zügig zu den Jungen in die Bauecke läuft. Dabei reibt sie ihre Hände aneinander. Sie weiß aus Erfahrung, dass ihr das hilft, bei sich und in der Situation anzukommen. Ihre Kollegin Elena beginnt zu singen, während ihr Kollege Jens bis zehn zählt. Lorena fühlt kurz in sich und spürt ein Hungergefühl. Gleichzeitig kommt ein Gedanke in ihr hoch, den sie wahrnimmt und der ihr sagt: »Schon wieder Ben, immer ...« Sie stoppt den Gedanken und prüft ihn. Sie weiß, dass sie durch ihre Bewertung der Situation anders handelt. Gedanken wie »Er fängt immer an!« oder »Das hat er doch mit Absicht gemacht!« behindern sie. Sie kann dann nicht mehr wertfrei und offen die Situation begleiten, denn durch ihre Gedanken verändert Lorena ihre Haltung und letztlich auch ihre Handlungen in der Konfliktbegleitung.
Sie möchte die Kinder in ihren Gefühlen sehen und ihnen gegenüber unvoreingenommen sein. Seit Wochen übt sie das. Bei den Kindern angekommen, geht sie vom Stehen in die Hocke. Nun kann sie sich ganz und gar den beiden Jungen zuwenden. Sie lächelt sanft und fragt mit sicherer Stimme: »Na, darf ich euch helfen?« Sie beginnt, Rafael zu trösten und Ben dabei einzubeziehen.
Kathrin Hohmann arbeitet als Kindheitspädagogin und Fortbildnerin im In- und Ausland. Sie betreibt den Blog und Podcast »Kindheiterleben« und führt ExpertInneninterviews für den Podcast vom nifbe. Im letzten Jahr veröffentlichte sie die Bücher »Gemeinsam durch die Wut« und »Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten«. Sie promoviert in pädagogischer Psychologie.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2022 lesen.