Partizipation: Vom Wunderwort zur Selbsterfahrung
Dass Kinder besser lernen, wenn es uns gelingt, eine authentische und gleichwürdige Beziehung zu ihnen aufzubauen, vermittelte die dänische Psychologin und Familientherapeutin Helle Jensen in letzten Heft. Im zweiten Teil ihres Gespräches mit Jutta Gruber erfahren wir, dass dies auch der beste Urgrund für die Erfahrung von Partizipation und Demokratiebildung
ist.
Es scheint, als gäbe es mehr Erziehungsratgeber und pädagogische Trends als je zuvor. Mit musikalischer Früherziehung, Bilingualität und Angeboten für kleine ForscherInnen fördern wir bereits die Jüngsten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung in Schulen und Kindertageseinrichtungen?
Grundsätzlich finde ich es gut, wenn wir uns für Kinder interessieren. Allerdings sollte immer die Beziehung mit dem Kind an erster Stelle stehen. Wir dürfen Beziehung nicht durch Methode ersetzen. Schönste Ideen wie Aufenthalte in der Natur, Malen oder andere Formen von Kreativität fördern Kinder nicht, wenn wir sie ihnen überstülpen. Kinder sind Menschen und nicht Objekte, an denen wir Methoden ausprobieren.
Wodurch unterscheidet sich Beziehung von Methode?
Man fühlt den Unterschied, sobald man einen Klassenraum betritt: Übernehmen hier die Lehrenden die Verantwortung für die Qualität der Beziehung mit den SchülerInnen oder überlassen sie diese den SchülerInnen? Wenn ich von Kindern Respekt, Interesse und Empathie wünsche, muss ich ihnen genau das selbst entgegenbringen und meine Aufgabe nicht darin sehen, ihnen während bestimmter Zeiten bestimmte Inhalte zu verabreichen.
Die Wurzeln Ihrer pädagogischen Haltung finden sich in der klientenzentrierten Gesprächstherapie nach Carl Rogers und der Gestalttherapie nach Fritz Perls.
Ja, das stimmt. Beide stellten die menschliche Begegnung in den Mittelpunkt ihrer nicht-direktiven, dialogischen Therapieprozesse.
Walter Kempler, einst enger Mitarbeiter von Fritz Perls, entwickelte in den 1970er-Jahren zusammen mit Jesper Juul u.a. aus diesem humanistisch-existenzialistischen Ansatz die erlebnisorientierte Therapie. Deren Orientierung im Hier und Jetzt, Authentizität und Selbsteinbeziehung der TherapeutInnen bzw. der pädagogischen Fachkräfte ist grundlegend für meine Arbeit.
Bedeutet Partizipation, dass Erwachsene Macht abgeben müssen?
Partizipation ist eins von diesen Wunderwörtern. Alle verwenden sie und kaum jemand weiß, was sie in der Praxis bedeuten. Ich will es mal so sagen: Partizipation verlangt, dass wir unsere autoritäre Haltung ablegen. Zu denken, dass Kinder alles machen müssen, was Lehrende von ihnen wollen, ist eine altmodische Haltung. Was wir brauchen, sind Menschen mit einer natürlichen inneren Autorität – Menschen die präsent und empathisch sind, Interesse für ihr Gegenüber zeigen und ihrer Mitwelt respektvoll begegnen. Mit Menschen, die ihre eigenen Grenzen kennen und zeigen und die Grenzen der anderen sehen und respektieren, läuft es gut im Klassenraum, in der Kindertageseinrichtung und in der Familie.
In Teil 1 unseres Interviews stellten wir fest, dass viele Menschen den Kontakt zu sich selbst verloren haben. Wie kann
das geschehen?
Ja, leider geschieht das. Als Baby sind wir alle in gutem Kontakt mit uns selbst und mit den Menschen um uns herum. Wir sind soziale Wesen von Anfang an. Ohne Beziehung würde kein Baby überleben. Diese uns angeborene Kompetenz verlieren wir letztlich durch Erziehung. Für Kinder ist es oft wichtiger, mit den Erwachsenen in Kontakt zu bleiben, als mit sich selbst. Wir kooperieren und verlieren dabei uns selbst, unsere Integrität und das Gefühl für unsere Grenzen. Ein Kind, dessen Grenzen oft überschritten werden, macht eine Art von Dissoziation. Es ist dann weniger im Kontakt mit sich und fühlt die Überschreitung seiner Grenzen weniger schmerzhaft. Allerdings bemerkt es dann auch gut, wenn es seinerseits Grenzen überschreitet.
Helle Jensen ist Psychologin und Familientherapeutin. Sie gehörte zum Team der 2004 von Jesper Juul gegründeten Familienwerkstatt Familylab und ist gemeinsam mit ihm Autorin u.a. der im April 2019 neu aufgelegten Publikation Vom Gehorsam zur Verantwortung: Wie Gleichwürdigkeit in der Schule gelingt.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2021 lesen.