Eine nachdenkliche Weihnachtsgeschichte
Mit einem besonderen Kinderbuch über Ängste reflektieren wir zum Jahresende Vergangenes und lernen wie wir damit umgehen können. Jochen Hering führt uns durch seine weihnachtliche Lieblingsgeschichte .
Haben Sie zufällig Herman van Veens Lied »Weg da« aus dem Jahr 1977 im Ohr? Wenn nicht, nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und hören Sie sich das Lied an, bevor Sie diesen Text lesen. Jetzt sind sie eingestimmt. Musik und Text machen Unruhe und Hektik spürbar. Die Bilder des Videos verstärken das noch. Die wenigen Textzeilen wiederholen den immer gleichen Gedanken eines Lebens in Unrast und Eile: Wir dürfen keine Zeit verlieren / Können hier nicht steh’n, wir müssen gehen. Mit diesen Worten endet der Song. Ein Lebensgefühl wird angesprochen, das viele, wenn nicht die meisten von uns kennen. Ein Alltag, der uns vereinnahmt, manchmal bis hin zur Besinnungslosigkeit.
Und es kostet Kraft, dieses Getrieben-Werden abzuschütteln, immer wieder Abstand davon zu nehmen, zur Besinnung zu kommen. Jetzt haben wir Winter, Adventszeit, Weihnachten, bald den Jahreswechsel. Es wird früh dunkel, und wenn es schneit, wird der alltägliche Lärm zugedeckt. Frost und Eis verlangsamen das Leben auf den Straßen. Pflanzen stellen ihr Wachstum ein, manche Tiere gehen in den Winterschlaf. Mit dem Winter sind Ruhe und Besinnung verbunden. Besinnung, sich besinnen, ich verbinde damit Konzentration, Meditation, Versenkung, auch Einsicht und Klarheit.
Nehmen wir das zusammen, wäre zur Besinnung kommen also so etwas wie sich in sich selbst versenken und dabei Einsicht und Klarheit gewinnen. Solche und ähnliche Gedanken sind mir gekommen, als ich das neu erschienene Bilderbuch »Keine Angst, Großer Wolf von Jan de Kinder« in die Hand genommen und angeschaut habe. Denn auf die Überlegung, was dieses Zur- Besinnung-Kommen genau sein könnte, gibt diese Geschichte eine so witzig-komische wie tiefsinnige Antwort. »Papa«, sagte Kleiner Wolf, »heute gehen wir zusammen in den Wald.« »Warte, Kleiner Wolf, warte!« Großer Wolf zittert. »Ist das wirklich eine gute Idee?«
So beginnt die Geschichte. Und die Mimik der beiden Protagonisten spiegelt schon in den ersten Bildern empathisch- bestrickend ihre innere Verfassung. Da haben wir den Kleinen Wolf, fröhlich, schmunzelnd, entspannt, und den Großen Wolf, voller Befürchtungen und Ängste, der sich schon vor dem Rauschen des Windes und dem Geschnatter der Gänse im Teich fürchtet. »Ich schaffe das nie«, jammert Großer Wolf. »Wir haben jede Menge Zeit«, sagt Kleiner Wolf. Still läuft der Große hinter dem Kleinen her. »Ist es noch weit, Kleiner Wolf?« Kleiner Wolf nickt. »Oh«, sagt Großer Wolf, »oh.« Wovor fürchtet sich der Große Wolf? Warum bleibt der Kleine so gelassen? Wir sind gespannt darauf, was die Geschichte für uns bereithält. »Suspens« nennt sich dieser dramaturgische Kunstgriff, der so etwas wie »Gespanntheit« bedeutet. Ein Ereignis wird nur angedeutet, wir LeserInnen schweben in Ungewissheit: Was kommt da auf uns zu? Welche Gefahr droht? »Papa, du hast es geschafft! Jetzt sind wir mitten im Wald. Du bist an den knackenden Ästen vorbeigegangen und an den Gänsen im Teich. Jetzt ist auch noch Vollmond. Du hast dich getraut. Du bist ein Held!«
Und dann auf einmal … riecht großer Wolf etwas, und dann gibt es kein Halten mehr für ihn. »Rennen, Kleiner Wolf!«, schreit er voll Panik. »Los, rennen.« Wie von Sinnen rast der Große davon – und irgendwie enttäuscht schaut sein Sohn dem Fliehenden hinterher.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2020 lesen.