Regina Remsperger-Kehm beschreibt, wie förmlich »durchgetaktet« unser Leben ist. Auch für Kinder wird es immer schwieriger, versunken zu spielen oder sich mit Muße auf etwas einzulassen. Erwachsene sind dafür verantwortlich, dass sich Kinder gesund und glücklich entwickeln können – dazu ist es unbedingt notwendig, Kindern mehr Gehör zu schenken.
Familienleben in der Leistungsgesellschaft
In einer von Konkurrenz getriebenen Leistungsgesellschaft hängen der Status, das Einkommen und der Einfluss des einzelnen Menschen von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen ab. Dies führt zu einer Welt, »die Menschen nicht nur beruflich, sondern auch im Privaten und in der Freizeit beständig auf Leistung trimmt«1, und zwar manch- mal bis hin zur vollkommenen Erschöpfung. Vor allem Bildung und Leistung sind eng miteinander verknüpft. Die Erwartungen an Krippe, Kita und Schule sind immens: Investitionen in die frühe Bildung sollen die umfassende Förderung von Kindern ermöglichen und deren spätere Erwerbstätigkeit positiv beeinflussen. »Gute« Kindheit wird oftmals mit dem Erfolg von Kindern in Bildungsinstitutionen verknüpft, »schlechte« Kindheit dagegen mit einem drohenden Misserfolg im Bildungssystem. Eltern spüren den enormen Druck, der durch die hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die Bildung von Kindern entsteht. Sie tun alles dafür, dass es ihren Kindern an nichts fehlt. Für »Kreativität, Selbstentfaltung, intrinsische Motivation, emotionale Nähe, (...) oder ein erfülltes Familienleben« bleibt jedoch oftmals kein Raum.2
Die Familienpolitik in Deutschland weist »enge Bezüge zur Wirtschaftspolitik« auf.3 Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Erhöhung des Angebots an Arbeitskräften und Investitionen in die Betreuungsinfrastruktur sollen zum Wirtschaftswachstum beitragen. »Politisch gewollt und vorangetrieben«4 ist es heute selbstverständlich, dass Kinder immer früher, immer länger und sehr zeitintensiv in Institutionen früher Bildung betreut und erzogen werden. Aus Elternsicht gehören die Öffnungszeiten daher zu den zentralen Qualitätsmerkmalen der Kindertagesbetreuung.
Viele Eltern erleben die zeitlich straff organisierte »Fürsorge für ihre Kinder, die hohen Anforderungen aus der Arbeitswelt und Fragen der Existenzsicherung häufig als einen anstrengenden und kräftezehrenden Balanceakt«5 – Raum und Ruhepausen für eigene Wünsche und Interessen bleiben dabei kaum. In einer »24/7-Gesellschaft«, in der wir im Grunde sieben Tage in der Woche rund um die Uhr aktiv sind, muss Familie häufig in »Zeitlücken der Erwerbsarbeit« gelebt werden und Zuwendung »auf Knopfdruck« erfolgen.6 Dabei ist die »Vorstellung, Sorgearbeit überwiegend in getakteten Zeitfenstern von ›quality time‹ leisten zu können, (...) eine Illusion.«. Familien stehen förmlich unter »Dauerstrom« und Kinder lernen zu funktionieren. Damit widerspricht der Familienalltag oftmals den Bedürfnissen von Kindern und ist geprägt von Stressbelastungen.
Sind Kinder glücklich und fühlen sie sich wohl?
Die Vorstellungen über eine glückliche Kindheit wirken wie ein Gegenentwurf zu den Merkmalen einer Leistungsgesellschaft. Glück ist ein »relativ unbestimmter bzw. kaum auf eine Formel zu bringender, changierender Begriff, der häufig auch noch mit einem emphatischen Absolutheitscharakter konnotiert wird«.8 Glück wird charakterisiert durch »die Nähe und Verbundenheit mit anderen Menschen, Vertrauen und Liebe, tiefe innere Ruhe und die Lust unmittelbarer Empfindung, die Stille und die übermütige Heiterkeit, die Innigkeit religiöser Einsicht, die Bejahung des Lebens«.9
Die Merkmale von Glück scheinen sich wiederum in den Grundbedürfnissen von Kindern zu spiegeln: das Bedürfnis nach beständigen, liebevollen Beziehungen, körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation, individuellen und entwicklungsgerechten Erfahrungen, Grenzen und Strukturen sowie nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität. Damit Kinder sich gesund entwickeln, sich wohl fühlen und Selbstwertgefühl aufbauen können, müssen ihre körperlichen und seelischen Grundbedürfnisse von vertrauten Bezugspersonen erfüllt werden.
Die Betreuung von Kindern bedeutet damit die »umfassende Sorge für das leibliche und seelische Wohl und das Wohlbefinden der Kinder, Zeit für Kinder, Aufmerksamkeit auf ihre Signale und Bedürfnisse, Zuwendung und Anerkennung«.10
Eine solche Betreuung ist eine entscheidende Voraussetzung für gelingende Bildungsprozesse. Hierzu gehört eine Lernumgebung, in der sich Kinder wohl, zugehörig und angenommen fühlen, sich ausprobieren und auf unterschiedliche Weisen ausdrücken können und in der sie als wichtige Akteure an einer Lerngemeinschaft mitwirken. Um sich mit Kreativität und Phantasie ein Bild von der Welt zu machen, benötigen Kinder Zeit für Muße – und zwar ohne Begrenzungen, Störungen, Unterbrechungen oder Regulationen durch Erwachsene.11 Für »ausgeplante« Kinder und gestresste Erwachsene ist es jedoch oft schwer, ein solches Lernen mit Muße zu gewährleisten.
Regina Remsperger-Kehm studierte Sozialwesen an der Fachhochschule Wiesbaden und promovierte zum Thema »Sensitive Responsivität in der Erzieher/in-Kind-Interaktion«. Die vierfache Mutter ist Professorin für »Pädagogische Grundlagen der Sozialen Arbeit und Kindheitswissenschaften« am Fachbereich Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz.
Kontakt
1 Verheyen N. (2018): Die Erfindung der Leistung. Berlin, S. 8
2 Ebd., S. 192
3 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): Familienreport 2017 – Leistungen, Wirkungen, Trends, unter www.bmfsfj.de, S. 99
4 Betz T., Viernickel S. (2016): Institutionalisierung früher Kindheit und Organisationsentwicklung. In: Nentwig-Gesemann I., Fröhlich-Gildhoff K., Betz T., Viernickel S. (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik IX. Schwerpunkt: Institutionalisierung früher Kindheit und Organisationsentwicklung. Freiburg, S. 16
5 Daum J. (2014): Das Wohl des Kindes in der Krippe im Spannungsfeld von Chancen und Risiken. Unter www.kita-fachtexte.de, S. 17
6 Jurczyk K. (2018): Zeit füreinander! Warum Zeit in Familien nicht alles ist, Familie aber ohne Zeit nichts. In: Stimme der Familie. Informationen – Positionen – Per- spektiven. Familienbund der Katholiken 4/2018, S. 11
7 Ebd., S. 11
8 Wyrobnik I. (2014): Glück. In Friesenhahn G., Braun D., Ningel, R. (Hrsg.): Handlungsräume Sozialer Arbeit. Opladen und Toronto, S. 383
9 Spektrum – Lexikon der Psychologie (o.J.). Glück. Unter www.spektrum.de/lexikon/
10 Liegle L. (2008): Erziehung als Aufforderung zur Bildung. In: Thole W., Roßbach H.-G., Fölling-Albers M., Tippelt R. (Hrsg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Opladen & Farmington Hills, S. 100
11 Jurczyk K., Barthelmes J. (2009): Private Kindheit. Zwischen Familie und Freunden, zwischen Bildung und Medien – Ist das Private wirklich privat? In: DJI-Bulletin 1/2009, S. 11
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/19 lesen.