Beziehungen fördern Resilienz
Wer kennt sie nicht, die Situationen, in denen das Verhalten von Kindern uns zu denken gibt oder regelrecht erschreckt? Dennoch hat jede Handlung – auch eine destruktive – und jede Befindlichkeit immer einen Grund, selbst wenn wir ihn nicht unmittelbar verstehen. Auf der Suche nach Antworten in Randgebieten der Frühpädagogik traf Jutta Gruber den Basler Psychiater Klaus Blaser und den Berliner Traumapädagogen Hans Rosenbrock.
Den in Basel praktizierenden Psychiater und Psychotherapeuten Klaus Blaser lernte ich auf einer kleinen Tagung des Forschungsnetzwerks Achtsamkeit in Berlin kennen. Sein Vortrag über die Stärkung der mentalen Ich-Grenze ist das Ergebnis langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Familien. Er ist überzeugt davon, dass letztlich jede Handlung und jedes Verhalten Sinn macht, auch dann, wenn man dies nicht unmittelbar nachvollziehen kann. Bereits Kinder ab dem vierten oder fünften Lebensjahr könne man nach dem Grund ihres Handelns fragen: »Man muss nur wissen wie.«
Irritierendes Verhalten von Kindern sei meist das Resultat einer Verletzung ihrer Ich-Grenze, erklärt Klaus Blaser. »Dass Kinder Grenzen brauchen, bekommen Eltern und pädagogische Fachkräfte ja ständig zu hören, dass Kinder bereits eine Grenze – ihre ganz persönliche – mitbringen, die es zu stärken gilt, erfahren sie oft erst bei mir.«
Was es mit dieser Grenze auf sich hat, veranschaulicht er mit der Metapher eines Gartens: »Jeder Mensch wird mit einem eigenen Garten, seiner ganz persönlichen psychischen Innenwelt geboren. Verläuft seine Entwicklung gut, entsteht um den Garten herum ein Zaun, die Ich-Grenze.« Während der Garten eines Neugeborenen zwar bereits genauso groß sei wie der eines Erwachsenen, sei der Zaun aber noch nicht vorhanden, sondern »zeichnet sich als eine Art Demarkationslinie ab«.
Prinzipiell sei jeder Mensch für die Pflege seiner Innenwelt – also dafür, welche Gefühle, Bilder und Erfahrungen wo Raum bekommen – selbst zuständig. »Kinder bilden eine Ausnahme, denn sie haben noch keine Erfahrung mit der »Gartenarbeit«. Sie sind auf gute Vorbilder angewiesen, auf Erwachsene, die ihnen »Gartenpflege« beibringen und sie so lange dabei unterstützen, bis sie selbst ihre Innenwelt pflegen und gestalten und einen gut funktionierenden Zaun instand halten können.
Übungen zur Wahrnehmung und Stärkung der Ich-Grenze
Kinder besitzen eine eigene Innenwelt, aber ihre Ich-Grenze ist noch nicht so gut entwickelt wie bei gesunden Erwachsenen. Entsprechend des Bildes von Klaus Blaser hat jedes Kind schon einen eigenen Garten, aber der Zaun ist noch im Entstehen. Deshalb ist es wichtig, sich der noch kaum vorhandenen oder erst sehr zarten Ich-Grenze eines Kindes bewusst zu sein.
Vergegenwärtigen Sie sich deshalb immer wieder, wie Sie mit beiden Beinen in Ihrem eigenen Garten stehen und versuchen Sie dann eines der Kinder aus Ihrer Gruppe wahrzunehmen, wie es neben Ihrem Garten in seinem Garten steht. Vielleicht können Sie dies mit einem inneren Bild in sich wachrufen. Sie werden feststellen, dass diese Übung nicht nur Ihren Umgang mit Kindern, sondern auch Ihre eigene innere Balance positiv beeinflusst.
Eine zweite Übung, die Ich-Grenze eines Kindes zu stärken, könnte sein, es hin und wieder, z.B. alle 14 Tage, zu fragen, ob es etwas gibt, für das Sie sich bei ihm entschuldigen sollten. Dadurch können Sie sich Belastendem, das Sie möglicherweise unbewusst bei einem Kind hinterlassen haben, bewusst werden und es zu sich zurück nehmen. Signalisieren Sie währenddessen dem Kind Offenheit und lassen Sie sich von seiner Antwort überraschen.
Der eigene Garten
Klaus Blaser unterscheidet drei typische Arten der Grenzverletzung: »Entweder hinterlässt jemand etwas in unserem Garten, das nicht zu uns gehört – z.B. die Kollegin, deren Kummer über ihren gestrigen Ehekrach uns bis in den Schlaf verfolgt. Oder jemand entwendet etwas – z.B. unsere Zuversicht und Motivation in Mobbingsituationen am Arbeitsplatz. Oder jemand verändert eigenmächtig etwas in unserem Garten – z.B. Eltern, die pubertierende Jugendliche ständig meinungsbildend beeinflussen.«
Um Kindern beizubringen, wie man seinen intrapsychischen Raum pflegt, solle man an erster Stelle mit gutem Beispiel vorangehen und seine eigene Innenwelt nicht vernachlässigen, was gerade in den helfenden Berufen eine besondere Herausforderung sein könne. »Es gibt leider recht viele Menschen – nicht nur in den helfenden Berufen –, die mehr darauf achten, was andere in deren Garten besser machen könnten, als darauf, was im eigenen psychischen Innenraum zu tun wäre.«
Bereits ab vier oder fünf Jahren sind Kinder empfänglich für dieses Bild des inneren Gartens und verstehen, dass es für niemanden gut ist, wenn andere Belastendes oder Hemmendes in ihrem Garten deponieren oder Kraftvolles entwenden. Erleben wir z.B. ein Kind, das betrübt oder aggressiv wirkt, können wir es fragen, ob jemand vielleicht etwas in seinen Garten getan hat.
»Kürzlich erlebte ich solch ein Beispiel in meiner Praxis mit der fünfjährigen Anna, die mit dem Bild des Gartens zu diesem Zeitpunkt bereits vertraut war. Sie zeigte sich gereizt, genervt, ungeduldig und aggressiv und erzählte mir, dass ihre beste Freundin Elisa etwas in ihren Garten getan hat. Im Gespräch mit Annas Mutter stellte sich heraus, dass Elisas Eltern gerade eine schwierige Lebenssituation bewältigen müssen und die Gereiztheit und Ungeduld, die Elisa an Anna weitergab, vermutlich von ihnen in Elisas Garten deponiert wurde.«
Ich-Grenze stärken
Es sei nicht ungewöhnlich, dass Kinder klare Wahrnehmungen für solche Zusammenhänge haben und sie auch gut formulieren können, berichtet Klaus Blaser. »Unsere Unterstützung brauchen sie, vor allem, wenn sie klein sind, bei der ›Gartenpflege‹ und der Entwicklung ihrer Ich-Grenze.«
Wie diese Unterstützung konkret gelingen kann, klingt fast zu einfach, um wahr zu sein: »Finden Sie – wie wir es für Anna taten – heraus, woher das Belastende oder Hemmende vermutlich ursächlich stammt. Überprüfen Sie Ihre Vermutung anschließend gemeinsam mit dem betroffenen Kind. Wenn es Ihre Vermutung bestätigt, fragen Sie das Kind, ob Sie die nicht zu ihm gehörenden Gefühle aus seinem Garten herausnehmen und an den- oder diejenige zurückgeben dürfen. Nachdem Sie die Erlaubnis bekommen haben, nehmen Sie das Belastende, am besten unterstützt mit einer entsprechenden Geste Ihrer Hände aus dem imaginären Garten des Kindes heraus und vermitteln Sie ihm, dass Sie es jetzt gedanklich zurückgeben.« Die Erleichterung, die das Kind durch die Entfernung des Belastenden empfindet, sei für die Eltern oder BegleiterInnen meist gut spürbar und mit der Zeit würden die Kinder lernen, diese Art der »Gartenpflege« selbst zu übernehmen.
»Menschen mit einer gesunden Ich-Grenze wissen intuitiv, welche Gefühle, Glaubenssätze und Erfahrungen zu wem, also in wessen Garten, gehören oder wer für was die Verantwortung trägt. Eine starke mentale Ich-Grenze ist insofern ein wesentlicher Schutzfaktor für eine resiliente Lebensführung.« Kinder, die irritiert wirken oder sich »danebenbenehmen«, andere treten oder Antworten verweigern, »brauchen keine Zurechtweisung, sondern unsere Unterstützung. Für jedes Verhalten gibt es einen guten Grund.«
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/17 lesen.