Biografische Selbstreflexion
Eine stimmige Geschlechtsidentität zu erlangen, gehört zu den bedeutsamsten Entwicklungsaufgaben im Vorschulalter. Doch sexuell behafteten Themen wird in der Kita gerne aus dem Weg gegangen, weil sie bei den pädagogischen Fachkräften oft schambesetzt sind. Silke Hubrig plädiert dafür, diese Stolpersteine durch biografische Selbstreflexion aus dem Weg zu räumen.
Bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität – einer zentralen Entwicklungsaufgabe im Kindergartenalter – geht es um die Fragen »Wie sehe ich mich als Junge oder Mädchen?« und »Wie sieht mich meine Umwelt als Junge oder Mädchen?«. Passt die Eigenwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung zusammen, kann das Kind eine stimmige, gesunde Geschlechtsidentität entwickeln. Eng verbunden mit der Geschlechtsidentitätsentwicklung der Jungen und Mädchen, ist die Auseinandersetzung mit der Sexualität. Diese kann sich im Kindergartenalltag auf vielfältige Art zeigen, beispielsweise im lustvollen Matschen mit Wasser und Sand, Rufen sexueller Schimpfwörter, sinnlichen Kitzeln oder zärtlichen Erkunden der eigenen Genitalien. Kindliche Sexualität verfolgt keine bewusste, zielgerichtete Beziehungsabsicht. Vielmehr geht es um einen unbefangenen, forschenden, angenehmen, zärtlichen Körperkontakt, den das Kind auf sich bezieht. Lediglich im Spiel ist die Sexualität auch auf andere Kinder bezogen.1
Geschlechterklischees begegnen
Die sexuellen Ausdrucksweisen der Jungen und Mädchen im Kindergarten werden von vielen pädagogischen Fachkräften ignoriert oder verboten. So sind sie beispielsweise peinlich berührt, wenn ein Kind sich gedankenverloren die Hand in die Hose schiebt. Sie schauen weg, versuchen das Kind abzulenken, so dass es etwas anderes tut oder verbieten es. Die Themen Sexualität und Geschlechtsidentität werden dadurch nicht aufgegriffen, sondern unter den Teppich gekehrt. Viele pädagogische Fachkräfte fühlen sich mit sexuell behafteten Situationen überfordert. Sie sind verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen.
Dieses Verhalten hängt mit ihrer eigenen Biografie zusammen. Möglicherweise wurde die pädagogische Fachkraft als Kind in einer ähnlichen Situation von den eigenen Eltern hart gerügt oder von ihren Geschwistern ausgelacht und bloßgestellt. Die Folgen können Scham, Peinlichkeit oder auch Angst sein. Ihr wurde wahrscheinlich nicht nahe gebracht, dass es völlig in Ordnung ist, die eigene Sexualität zu entdecken – nur, dass sie dieses nicht in der Öffentlichkeit tun sollten. Die Genitalien zu erkunden und »sich schöne Gefühle zu machen«, ist eine ganz persönliche Angelegenheit, für die man sich beispielsweise alleine ins Kinderzimmer zurückziehen kann. Diese empathische Erklärung wäre eine angemessene Umgangsform. Kindlichen genital-sexuellen Äußerungen in der Kita sollten die Fachkräfte ebenfalls mit dieser Haltung begegnen.
Auch mit klischeehaften Ausdrucksweisen der Geschlechts-identitätsentwicklung setzen sich nicht alle ErzieherInnen gerne auseinander. Einige sind entnervt von den »rosa-glitzernden Mädchengruppen« oder lauten, raufenden Jungenhorden. Schnell wird das mit dem Satz »Mädchen und Jungen sind in dem Alter so« abgetan, der die Resignation der Fachkräfte widerspiegelt. Doch diese Erklärung greift zu kurz: »So« sind die Mädchen und Jungen eben nicht. Die strengen Regeln von Weiblichkeit und Männlichkeit und die Überzeichnung der gesellschaftlichen Geschlechterrollenklischees sind ein wichtiger Bestandteil beim Aufbau der Geschlechtsidentität.
Kinder im Vorschulalter haben ein Geschlechtsbewusstsein und können benennen, dass sie ein Junge oder ein Mädchen sind. Sie wollen ihre Zugehörigkeit zur Geschlechtergruppe stets unmissverständlich präsentieren. Dieses geschieht in einem hohen Maße, bis die Jungen und Mädchen eine sogenannte Geschlechterkonstanz erreicht haben. Dann wissen sie, dass sie lebenslang ein Junge oder ein Mädchen bleiben werden, unabhängig von ihrem Verhalten oder ihren Vorlieben und Abneigungen. Wäre den Kindern eine breitere Palette von Ausgestaltungen der Geschlechterrollen vertraut, müssten sie nicht auf die einengenden Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit zurückgreifen. Jedes Kind könnte seine Geschlechtsrolle so kreieren, wie es ihm entspricht. Das beinhaltet auch transgender oder intersexuelle Identitätsmöglichkeiten.
Der Blick in die Biografie
Die innere Haltung und das Engagement der pädagogischen Fachkräfte bedingen eine positive Umsetzung von geschlechtsbewusstem und sexualfreundlichem Handeln im Gruppenalltag. Ihre bewussten und unbewussten Erfahrungen und Erlebnisse sowie sozialisierte Einstellungen, Normen und Werte beeinflussen ihre pädagogische Arbeit. Somit bringt sie Anteile ihrer Geschlechtsidentitätsentwicklung und sexuellen Entwicklung in ihre Arbeit mit ein.
Biografische Erfahrungen, wie etwa Kränkungen, Einschränkungen, Wünsche und Interessen, sollten von den ErzieherInnen reflektiert werden, um sie nicht auf die Kinder zu übertragen. Übertragungen laufen unbeabsichtigt und unbewusst ab. Meistens wird eine bestimmte Atmosphäre oder Szene der Vergangenheit gegenwärtig und nimmt den Menschen so ein, dass er die momentane Situation nicht mehr objektiv und realistisch wahrnehmen und beurteilen kann. So ist es denkbar, dass eine Erzieherin, die selbst die Erfahrung gemacht hat, dass sie als Kind von einem anderen Kind sexuell bedrängte wurde, unangemessen panisch reagiert, wenn sie bemerkt, dass zwei Kinder gegenseitig ihre Genitalien erkunden. Oder dass eine Erzieherin Mädchen mit mehr Nachdruck zum Frühstückstisch abräumen auffordert als Jungen. Aus ihrer eigenen Sozialisation ist sie es vielleicht gewohnt, dass sie und ihre Schwester die Küchenarbeit machen mussten, während ihre kleinen Brüder von diesen Aufgaben befreit waren.
Eine professionelle pädagogische Einstellung und Positionierung kann nur dann zustande kommen, wenn die eigene, reflektierte Haltung mit dem geschlechts- und sexualpädagogischen Fachwissen abgeglichen wird. Die biografische Reflexion ermöglicht, aktuelles Verhalten oder Gefühle mit zurückliegenden Erfahrungen in Verbindung zu bringen. Unangenehme Emotionen, wie Scham, Angst und Verunsicherung, werden durch die Auseinandersetzung verstanden und bearbeitet. Durch eine biografische Reflexion lässt sich eine sensible, empathische pädagogische Handlungsfähigkeit gegenüber Jungen und Mädchen erreichen. Vermeintlich unangenehme Themen – wie die Fragen »Wie stehe ich zu Doktorspielen im Kindergarten?« oder »Wie reagiere ich, wenn ein Junge mit einem Kleid in den Kindergarten kommt?« – werden dann nicht mehr ausgeklammert, sondern gelassen betrachtet. Bedeutsame Aspekte der biografischen Reflexion sind insbesondere persönliche Befangenheiten und Unsicherheiten, aber auch Stärken und Ressourcen.
www.genderloops.eu/de
Auf der Homepage »Genderloops« erhalten Sie reichhaltige Unterstützung zum Thema geschlechterreflektierte Erziehung, z.B. in Form von Fragebogen, Argumentationshilfen, Checklisten zu Bilderbüchern und Anregungen für die Teamarbeit.
Kontakt
Silke Hubrig ist Lehrerin an einer beruflichen Schule für Hauswirtschaft und Sozialpädagogik mit den Schwerpunkten »Geschlechtsbewusste Pädagogik« und »Bewegung«. Darüber hinaus schreibt sie Fachbücher und Aufsätze zu pädagogischen Themen und ist Autorin für www.kita-fuchs.de
Email:
1 Vgl. Hubrig S. (2014): Sexualerziehung in Kitas. Die Entwicklung einer positiven Sexualität begleiten und fördern. Weinheim und Basel, S. 12ff
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/16 lesen.