Zu Risiken und Nebenwirkungen eines Modebegriffs
Das Wort Bindung wird in der Pädagogik zurzeit sehr häufig verwendet. Wer jedoch nach einer klaren wissenschaftlichen Definition von Bindung im Kontext der professionellen Erzieherin-Kind-Beziehung sucht, findet nichts. Dr. Anna Winner sortiert das Bedeutungsdurcheinander.
Es findet sich kaum ein Artikel, Vortrag, Konzept, in dem nicht betont wird, wie wichtig Bindung sei: »Auf diesem Hintergrund ist das Plädoyer des vorliegenden Handbuchs für Qualität in der Betreuung von Kindern unter drei Jahren so wichtig. Drei zentrale Aussagen können nicht genug betont werden:
1. Ein kleines Kind braucht eine Bindung auch an seine Erzieherin.
2. Bildung gelingt am besten auf der Grundlage einer vertrauensvollen Bindung….« (Grossmann/Grossmann in Becker-Stoll/Niesel/Wertfein 2012, S. 8)
Man wagt kaum zu widersprechen. Schnell setzt man sich dem Verdacht aus, man fände es nicht wichtig, dass Kleinkinder liebevoll betreut werden. Und dennoch: Warum sprechen Grossmann/Grossmann von Bindung und nicht von einer vertrauensvollen, wertschätzenden Beziehung? Warum genügt so eine Formulierung nicht, was macht den qualitativen Sprung aus, der die Betonung auf Bindung erfordert? Erstaunlicherweise erfährt man auf diese nahe liegende Frage keine Antwort.
Wer nach einer klaren wissenschaftlichen Definition von Bindung im Kontext der professionellen Erzieherin-Kind-Beziehung sucht, findet nichts. Mal wirken Bindung und Beziehung wie austauschbare Synonyme, mal werden Definitionen herangezogen, die aus der Erforschung privater Eltern-Kind-Beziehungen abgeleitet wurden. Manchmal ist Bindung ein rein deskripitives Verhaltensrepertoire, dann wieder eine innere Repräsentanz von Beziehungserfahrungen oder ein affektives Band, das schon manchmal als Leine zwischen Erwachsenen und Kindern dargestellt wird.
Die unklare Terminologie scheint ein Geburtsfehler der Bindungsforschung zu sein. Bereits 1985 schrieb Daniel Stern in seinem Werk »Die Lebenserfahrung des Säuglings«: »Die Bindungstheorie, die aus ihren Ursprüngen in der Psychoanalyse und der Ethologie herausgewachsen ist und sich auch die Methoden und Perspektiven der Entwicklungspsychologie zu eigen gemacht hat, erfasst nun Phänomene auf zahlreichen Ebenen: ›Bindung‹ kann ein Komplex kindlicher Verhaltensweisen, ein motivationales System, eine Beziehung zwischen Mutter und Kind, ein theoretisches Konstrukt und eine subjektive Erfahrung des Kindes in Form innerer ›Arbeitsmodelle‹ bedeuten.« (Stern 1994, S. 45)
Für die Pädagogik ist das Bedeutungsdurcheinander ausgesprochen problematisch, denn Ziele, Haltungen, theoretische Vorstellungen, Hypothesen, widersprüchliche Aussagen werden oft erst in dem Ringen um eine einheitliche Begriffsdefinition deutlich. Nehmen wir also das Wort Bindung und seine verschiedenen Bedeutungen genau unter die Lupe.
Bindung – ein evolutionär angelegtes Verhaltenssystem
In der Fachliteratur wird Bindung als evolutionsbiologisch begründetes, kulturunspezifisches altersunabhängiges Verhaltenssystem beschrieben, das der Arterhaltung dient und dem Explorationsverhaltensystem gegenüber steht. Das Bindungsverhaltenssystem wird bei Gefahr und Stress aktiviert, um Schutz und Sicherheit zu gewährleisten, das Explorationsverhaltenssystem wird dann deaktiviert. Diese Sichtweise stellt eine Vereinfachung der biologisch angelegten Verhaltenssysteme dar. Dem Explorationsverhaltenssystem steht ein komplexes »Verhalten-bei-Gefahr-System« gegenüber.
Bindung steht nicht komplementär zu Explorations-, sondern zu Fluchtverhalten. Menschen reagieren auf gefährliche Situationen durch Fluchtverhalten, durch Verbergen, Verstecken, durch Vermeiden von gefährlichen Situationen, durch Abwehr, Kampf usw. und durch »Bindungsverhalten«. Bei Säugetieren wäre das Jungtier nicht ohne die »Nahrungsquelle« Mutter überlebensfähig, deshalb dient es der Arterhaltung, dass weder das Mutter- noch das Jungtier unabhängig voneinander fliehen. Bindung unterdrückt deshalb den Fluchtinstinkt, beide suchen sich bei Gefahr sofort. Bei Katastrophen kann man beobachten, dass Familienmitglieder sich suchen, bevor sie sich selbst in Sicherheit bringen. Da der Säugling noch nicht fliehen kann, ist Bindung die häufigste Reaktion auf Gefahr. Sobald das Kleinkind krabbeln oder laufen kann, kann man auch alle anderen Verhaltensweisen beobachten.
Die Säuglingsforschung konnte zeigen, dass Kleinkinder ein gutes Gespür für Gefahren besitzen und vor einem »Abgrund« inne halten. In Konfliktsituationen verlassen Kleinkinder den Konfliktherd, wenn es ihnen zu gefährlich wird oder wehren sich. Bei Angst verstecken sich Kinder auch. Das hat schon manche Mutter zur Verzweiflung getrieben, die ihr verlorenes Kind im Kaufhaus suchte und rief und das Kind sich in einer Garderobe oder hinter Kleidern versteckte und ängstlich ausharrte, bis es gefunden wurde. Kinder müssen lernen mit Gefahren umzugehen. Das gelingt aber nur, wenn die »Gefahren« nicht zu groß sind. Es hätte mich als Mutter nicht beruhigt, dass mein Kind in der Kinderkrippe eine Person findet, die ihm bei Gefahr beisteht. »Loslassen« konnte ich mein Kind nur, weil ich wusste, dass die Kinderkrippe insgesamt ein gefährdungsarmer und stressreduzierter Raum ist.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/13 lesen.