Literacy
Nancy Hoenisch, Autorin des Buchs »Mathe-Kings«, hat ein neues Werk verfasst: »Literacy im Spiel. Wie junge Kinder sich die Welt des Abstrakten erschließen«. Demnächst erscheint es im verlag das netz. – Mit Nancy Hoenisch sprach Erika Berthold.
Was ist Literacy?
Literacy wird auch hierzulande häufig falsch verstanden. Das merkte ich, als ich die Ausstellungen »Mathe-Kings« begleitete und Vorträge vor Erzieherinnen hielt.
Die Brücke in die Welt des Abstakten, die Kinder sich bauen müssen, ist bei der Mathematik die gleiche wie bei Literacy. Demzufolge ist auch die Frage für uns Erwachsene die gleiche: Wie können wir Kinder an Symbolik heranführen, seien es Zahlen und Algorithmen oder das ABC und das Lesen?
In vielen Kindergärten stellte ich fest, dass sehr wenig mit den Kindern geschrieben wird. Ich meine nicht das ABC oder Wörter, sondern dass das Gekritzel im Spiel als Schreiben anerkannt wird. Ein Kind kritzelt im Spiel eine Botschaft. Sie ist ein Symbol für irgendetwas, das im Spiel wichtig war. In der Mathematik ist es genauso: Hier sortieren wir die Knöpfe, und dort kritzeln wir hin, was zusammenpasst, Kreise mit zwei Löchern, Kreise mit vier Löchern – Symbole für unsere Arbeit. Diese spielerische Einleitung oder Hinführung zur Symbolik fehlte in den Kindergärten, in denen ich zu Besuch war.
Während kleine Kinder sich die Symbolik der Welt der Bücher aneignen, müssen sie heute gleichzeitig die Symbolik der neuen Medien konstruieren. Das lernen sie vielfach im gemeinsamen Tun mit uns Erwachsenen, denn gerade wir älteren Semester kennen uns nicht immer gut damit aus. Beim Lesen ist das anders. Da meinen die Erwachsenen, sie könnten Kinder belehren, und verpassen die einmalige Gelegenheit, Kinder im Spiel an Literacy heranzuführen.
Könnte man sagen, dass Sie bei den Besuchen in Kindergärten erst mal für die Erwachsenen eine Brücke bauen müssen, damit sie begreifen, was es mit den Symbolen auf sich hat? In der Schule hatten sie es ja völlig anders gelernt. Die meisten Erzieherinnen graulen sich nicht von ungefähr vor Mathematik. Nicht etwa, weil sie zu doof dafür wären, sondern weil man ihnen in der Schule den Spaß an Mathematik ausgetrieben hatte.
Ja, so ist es seit 200 Jahren. Uns allen hat man Inhalts-Mathematik beigebracht: Was ist 2 plus 2 und 3 plus 4? Das ist Inhalts-Mathematik, aber keine Denkweise.
Genau so ist es bei Literacy. Man hat uns das Lesen beigebracht, hat es uns gelehrt. Aber Literacy ist etwas anderes. Literacy wird angeeignet, von jedem Menschen selbst – von Geburt an und in einem lebenslangen Prozess.
Wenn ein Baby gestikuliert, ist das Symbol sofort da. Es ist die Geste, mit der das Baby etwas ausdrückt. Etwas, für das es später ein Wort hat, wenn es sprechen kann. Diese Geste ist das erste Symbol – und nicht das A im ABC der Grundschule.
Wie verläuft dieser Prozess, der mit dem ersten Fingerzeig des Babys und mit den ersten Lauten beginnt? Man kann ihn sich wie eine Brücke vorstellen, die aus der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren in die Welt des Abstakten führt. Diese Brücke müssen wir Erwachsene bauen – oder besser: nachbauen, für uns selbst. Ich musste das zum Beispiel bei der Mathematik. Piaget hat mir beim Begreifen dessen, wie ich mit den Kindern arbeiten kann, sehr geholfen. Auch beim Verständnis dessen, wie sich Kinder Literacy aneignen.
Ich merkte: Wir Erwachsene müssen unsere Definition von Literacy verändern. Wir müssen begreifen, dass es sich um einen Prozess handelt, bei dem es nicht nur um das Lesenlernen geht und der nicht beim Lesenkönnen endet. Literacy beschreibt, wie man zum Verständnis von Symbolen kommt, nicht nur zum Lesen.
Ich glaube, das müssen wir Erwachsene wirklich lernen. Es ist ja fast ein Wunder, dass wir lesen gelernt haben – trotz Schule. Ich hatte damit aber keine Schwierigkeiten. Wieso eigentlich?
Viele Leute haben auch Rechnen gelernt. Doch sie mussten Barrieren überwinden. Wem das nicht gelang, der bekam Angst vor Mathematik. Andere bekamen Angst vorm Schreiben und schreiben heute noch vor allem mit dem Blick auf ihre Rechtschreibung, weil sie fürchten, Fehler zu machen. Der Inhalt, den sie vermitteln wollen, rückt dabei fast in den Hintergrund. Auch beim Lesen. Deshalb lieben sie Bücher nicht, schon gar keine dicken.
Das Resultat falsch verstandener Literacy ist: Man lehrt Symbolik, und das Kind lernt, Symbole zu entziffern. Es lernt nicht, dem Inhalt zu folgen und sich daran zu erfreuen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/11 lesen.