Was Sie schon immer über Offene Arbeit wissen wollten
In Heft 8-9/10 startete eine Serie mit Fragen und Antworten zur Offenen Arbeit – eingesammelt in Kindertageseinrichtungen, bei diversen Veranstaltungen und beantwortet von Gerlinde Lill. Diesmal geht es um die Jüngsten.
Wenn Öffnungsprozesse geplant oder Kinder im Krippenalter in ein »offenes Haus« aufgenommen werden sollen, taucht häufig die Frage auf: Ist Offene Arbeit für sehr junge Kinder überhaupt geeignet?
Meine Antwort lautet: Ja. Offene Arbeit ist für alle Kinder ein Gewinn. Vorausgesetzt, sie wird nicht missverstanden und nur rein äußerlich umgesetzt. Vorausgesetzt, die Erzieherinnen sind mit wachen Sinnen auf den Spuren der Kinder und handeln kompetent: eigenverantwortlich, differenziert, situationsbezogen und in gemeinsamer Verantwortung.
Hinter der zweifelnden Frage verbergen sich fast immer zwei Annahmen:
- Junge Kinder brauchen Schutz und Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung.
- Offene Arbeit bietet all das nicht oder zumindest nicht ausreichend.
Junge Kinder brauchen Schutz und Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung
Abgesehen davon, dass »jung« zu spezifizieren wäre, ist das, was Kinder »brauchen«, nicht verallgemeinerbar. Jedes Kind ist anders – unabhängig vom Alter. Zudem wird nur eine Seite kindlicher Bedürfnisse beachtet: Nähe und Geborgenheit. Doch Kinder streben von Anfang an nicht nur nach Zugehörigkeit, sondern auch danach, sich »abzunabeln« und die Welt mit ihren Mitteln zu erkunden.
Sicherheit zu geben bedeutet daher nicht allein Schutz und körperliche Nähe – ich bin da, ich beschütze dich, du kannst mir vertrauen –, sondern ebenso Loslassen und Ermutigen: Geh ruhig, trau dich, ich vertraue dir, ich traue dir das zu. Geborgen kann sich ein Kind nicht nur im Arm oder auf dem Schoß fühlen, sondern ebenso, wenn es herumtoben und Quatsch machen kann, ohne befürchten zu müssen, dass es zurechtgewiesen oder abgestempelt wird. In beiden Fällen muss die Erzieherin aufmerksam, wohlwollend und unterstützend da sein.
Schwer zu beantworten ist die Frage, wie überschaubar der räumliche und personelle Rahmen generell sein sollte, damit zum Beispiel Kinder im ersten Lebensjahr Orientierungspunkte für sich finden. Erfahrungen zeigen, dass selbst junge Kinder sich keineswegs immer auf einen Raum oder eine erwachsene Person beschränken wollen. Vor allem andere Kinder sind interessant. Aber wie viele verkraftet ein Kind in welcher Dichte, ohne sich bedrängt oder eingeschränkt zu fühlen? Darauf gibt es keine allgemein gültige Antwort. Es bleibt nur, genau hinzuschauen und ein breites Spektrum an Möglichkeiten zu eröffnen.
Erzieherinnen wollen in aller Regel das Beste für die Kinder – wie deren Eltern. Je weniger Erfahrungen sie mit Kindern unter drei Jahren haben, desto unsicherer sind sie, was das Beste für diese Kinder ist. Und desto eher neigen sie dazu, einen Schonraum einzurichten – zumal das immer wieder propagiert wird. Hat dieser Schonraum einen Ausgang, den die Kinder eigenständig nutzen können, ist alles in Ordnung.
Kinder zeigen, was sie brauchen, in jedem Alter. Die Signale junger Kinder treffend zu interpretieren, das ist jedoch besonders anspruchsvoll, denn gerade sie sind vom Verstehen und Wollen derjenigen Erwachsenen abhängig, die für sie verantwortlich sind.
Offene Arbeit bietet nicht ausreichend Schutz und Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung
Dieser Aussage liegt der Irrtum zugrunde, Offene Arbeit bedeute offene Türen und chaotische Verhältnisse: Kinder irren durchs Haus, fühlen sich nirgends heimisch und können folglich nur schwer Beziehungen knüpfen. Sieht Offene Arbeit so aus, stimmt etwas nicht.1
Offene Arbeit setzt auf die Freiwilligkeit der Beziehungen zwischen Kindern ebenso wie zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Maxime »Differenzieren, flexibel reagieren, improvisieren – je nachdem, was die Kinder tun, wollen und zeigen« gilt auch, wenn es um ihre Beziehungsbedürfnisse geht. Wir sind überzeugt, dass die Qualität von Beziehungen nicht von ihrer Kontinuität abhängt – eine kontinuierlich schlechte Beziehung stiftet keine Geborgenheit –, sondern davon, in welcher Intensität sich beide Seiten aufeinander beziehen.
Eine der Chancen, die sich in der neuen Lebenswelt bietet, ist die freie Wahl der Beziehungen. Anders als in der Familie sind Kinder in der Kita nicht emotional von bestimmten (wenigen) Menschen abhängig. Doch nur in der Praxis Offener Arbeit lassen sich Antworten auf die Frage finden, wie beides gelingt: Schutz und Nähe zu bieten und sie nicht in der Enge künstlicher Bezugssysteme gefangen zu halten.
Wie merkt eine Erzieherin, worauf es gerade ankommt? Wie schafft sie es, in Ruhe ein Kind zu wickeln und gleichzeitig einem anderen Kind die Gewissheit von Nähe, Aufmerksamkeit, Geborgenheit zu geben? Wie können die Kolleginnen sichern, dass alle Kinder das bekommen, was sie brauchen, und zwar dann, wenn sie es einfordern?
Hier zeigt sich, was Offene Arbeit strukturell bedeutet: Zusammenarbeiten, Arbeitsteilung nicht nur generell planen, sondern im alltäglichen Zusammenleben praktizieren: Ich wickle Fridolin, du übernimmst so lange Katarina. Sophia nehme ich mit, denn sie guckt gern beim Wickeln zu, und Fridolin freut sich, wenn sie dabei ist. (Falls Fridolin sich nicht freut, dann natürlich nicht…) Wickelsituationen sind Gelegenheiten für intensive Zuwendung und Zwiesprache. Hierfür Zeit, Raum und Muße zu schaffen, das ist eine gemeinsame Aufgabe.
Strukturelle Offenheit in der Zusammenarbeit ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung, um wahrzunehmen und zu tun, was die Kinder wünschen. Offene äußere Strukturen nützen nur, wenn auch innere Strukturen sich öffnen: Aufmerksamkeit und Kommunikation sind die eigentlichen Öffnungsgeheimnisse.
All das ist nicht leicht zu bewerkstelligen. Rezepte oder Garantien gibt es nicht. Da hilft nur kontinuierliche Beobachtung und Reflexion: Wie wirken die räumlichen Bedingungen, die Zeitstrukturen und die Organisationsformen? Sind die Kinder munter unterwegs? Haben sie zu tun? Finden sie, was sie brauchen? Nutzen sie die Möglichkeiten, die sich bieten? Werden sie in Ruhe gelassen? Welche Arten und Qualitäten von Beziehungen entfalten sich? Sind Entwicklungen und Veränderungen zu spüren? Auch bei den Erwachsenen? Werden Kinder, denen es nicht gut ergeht, oder Situationen, die nicht erquicklich sind, wahrgenommen? Wird nach Alternativen gesucht?
Offene Arbeit bedeutet: Im Blick zu behalten, worauf es den Kindern ankommt, und deswegen offen für unterschiedliche Lösungsideen und Verhaltensalternativen zu sein. Das klappt, wenn die eigene Neugier anspringt: Was ist bei diesen jungen Kindern zu entdecken? Wie entdecken sie die Welt?
1 Siehe: Teil 2: Irrungen und Verwirrungen. In: Betrifft KINDER, Heft 10/10, S. 20-23