In Heft 3/2010 räumte Michael Kobbeloer mit neun populären Irrtümern der aktuellen Debatte um die Erzieherinnenausbildung auf – dem gescheiterten Reformversuch Erzieherinnenausbildung 2.0. Jetzt wird es Zeit für eine Reform der Ausbildung, die diesen Namen verdient. Ein Entwurf der Erzieherinnenausbildung 3.0 zur Diskussion.
Die Ausgangslage
Durch das Kinderförderungsgesetz gilt der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in knapp drei Jahren auch für ein- und zweijährige Kinder. Um ihn zu realisieren, werden bis zu 40.000 Tagespflegepersonen und rund 45.000 Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen benötigt. Berücksichtigt man alle umfassenden Szenarien und das altersbedingte Ausscheiden von Fachkräften, ergibt sich nach Prof. Rauschenbach ein Gesamtpersonalbedarf von mehr als 90 000 Fachkräften, den das bestehende Ausbildungssystem nicht vollständig decken kann.
Bund und Länder gaben Hunderte Milliarden Euro für Konjunkturpakete und die Rettung der Banken aus – der Schuldenberg ist höher als je zuvor. Was bei einer vergleichsweise »guten Haushaltslage« schon unrealistisch war, ist angesichts der aktuellen Weltwirtschaftskrise nicht realistischer geworden: Milliardeninvestitionen im frühpädagogischen Bereich und die höhere Vergütung von Fachkräften. Neuere Einschätzungen und Studien gehen sogar davon aus, dass der Bedarf an Betreuungsplätzen für Kinder, die jünger als drei Jahre sind, deutlich höher ausfallen wird, als bislang angenommen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Deutschen Städte- und Gemeindebunds (DStGB) ergab, dass sich 66 Prozent der Eltern einen Krippenplatz wünschen. Der geplante Ausbau auf 35 Prozent stand immer in Frage und ist nun nicht mehr haltbar. Dem Bund droht eine Klagewelle von Eltern, die den Rechtsanspruch einfordern werden. Erste Forderungen nach der Rücknahme des Rechtsanspruchs werden laut.
Die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern verändern sich ständig. Darauf müssen sich Erzieherinnen und Erzieher rechtzeitig und immer wieder neu einstellen. Stellvertretend seien hier der Bereich des Spracherwerbs in bilingualen Kindertageseinrichtungen, Aspekte von Kinderarmut, sexuelle Verwahrlosung oder Drogenmissbrauch von Kindern und Jugendlichen zu nennen. Außerdem sind die Anforderungen durch die Individualisierung, die Globalisierung und den ständigen Wertewandel in der Gesellschaft gestiegen. Daraus folgt, dass künftige Erzieherinnen und Erzieher Kompetenzen benötigen, die es ihnen ermöglichen, angemessen und professionell darauf zu reagieren.
Dies stellt die Berufsausbildung vor völlig neue Herausforderungen, und die Leistungsfähigkeit beruflicher Schulen wird auf den Prüfstand gestellt. Berufsbildende Schulen müssen sich der Lebenswirklichkeit stellen und sich curricular neu ausrichten, um auf die Herausforderungen reagieren und zukunftsfähig ausbilden zu können.
Was lässt sich daraus schließen?
Das Personal im Bereich der Frühpädagogik »nur« auf Hochschulniveau auszubilden ist weder personell, finanziell noch strukturell in den kommenden Jahren zu realisieren. Die im Vorangegangenen angeführten Daten und Fakten – sprich: die neun populären Irrtümer – belegen dies eindeutig. Eine Reform der Ausbildung ist zwar unumgänglich, aber die Weichen müssen auf anderen strukturellen Ebenen – unter anderem Jugendministerkonferenz und 1Kultusministerkonferenz – richtig und nachhaltig gestellt werden.
Auch in den nächsten Jahrzehnten werden die Fachschulen und Fachakademien für Sozialpädagogik die zentralen Stellen für die Ausbildung des Personals in Kindertageseinrichtungen sein. Darüber hinaus werden sie, wie von vielen Expertinnen und Verbänden seit einiger Zeit gefordert, die Weiterqualifizierung der Tagespflegepersonen übernehmen. Das ist konsequent, da die Trias »Betreuung, Bildung und Erziehung« auch für diese Fachkräfte gilt und die Qualität in allen Arbeitsfeldern der Frühpädagogik sichert. Die Qualifizierung sollte in Kooperation mit den derzeitigen Anbietern erarbeitet und durchgeführt werden. Ein Stufen- und Anrechnungsmodell ist denkbar.
Welche Konsequenzen ergeben sich?
Die erste Konsequenz
Es kann nicht alles bleiben, wie es ist. Dies trifft auch und besonders auf die Fachschulen und Fachakademien für Sozialpädagogik zu, denn die Neuausrichtung der Erzieherinnenausbildung muss fortgesetzt werden. Einige Fachschulen und Fachakademien machen sich auf den Weg und entwickeln vor dem Hintergrund des weiten Rahmens der KMK-Vereinbarung verbesserte Ausbildungskonzepte, die ihnen den Anschluss an die Hoch- und Fachhochschulausbildung ermöglichen. Modellversuche in Richtung Europa starteten, Kontakte zu Hoch- und Fachhochschulen wurden geknüpft und innere Reformen eingeleitet.
Doch das Curriculum der Erzieherinnenausbildung droht wegen Überfüllung zu platzen. Mehr Fachlichkeit und Kompetenz entsteht eben nicht, indem man ein Curriculum aufplustert, sondern indem man differenziert.
Eine Möglichkeit wäre die Abschaffung der Breitbandausbildung zugunsten einer mehrstufigen oder modularen Ausbildung, die in ersten Ansätzen entwickelt und praktiziert wird. Die Berufsfachschulen könnten als sozialpädagogische Basisbreitbandausbildung gelten, und die eigentliche Fachschule/Fachakademie könnte mit zwei Schwerpunktbereichen darauf aufbauen: zum Beispiel die Altersgruppe der Null- bis Zehnjährigen und die Altersgruppe der Kinder ab zehn Jahren. Daran schließt sich die Möglichkeit des Studiums (BA Frühpädagogik und BA Soziale Arbeit) an, in dem Module angerechnet werden können. Doch in jedem Fall muss sich die Ausbildung von ihrer institutionsorientierten Perspektive lösen und eine kindzentrierte Perspektive einnehmen.
Die nachhaltigere Lösung wäre jedoch eine kompetenzorientierte Ausbildung, die die modulare Idee nicht ausschließt, aber den Anforderungen der Zukunft entspricht.
Historisch basierten die Strukturen der Ausbildung auf den Anforderungen der Industrie- und Wissensgesellschaft. Doch Wissen allein reicht nicht aus. Eine zukunftsfähige Ausbildung muss sich an Kompetenzen und messbarer Kompetenzentwicklung orientieren. Mit dem »Umformulieren« von Lernfeldern in Kompetenzbereiche, wie es das Qualifikationsprofil Fachschule/Fachakademie im Rahmen des DQR beabsichtigt, ist es nicht getan, denn Wissen ist eine Bedingung für Kompetenz, und Kompetenz erhöht das Qualifikationsniveau. Dieser Zusammenhang erfordert mehr als Umformulierungsgeschick.
Fakt ist: Bildungsbereiche, Fächer, Lernfelder und Inhalte verändern sich und sind morgen schon unbrauchbar. Kompetenzen hingegen bleiben ein Leben lang erhalten. Dem wird der inzwischen inflationär gebrauchte flache Kompetenzbegriff, hinter dem sich selbst in Fachdiskussionen und -publikationen meist ausschließlich »Fähigkeiten und Fertigkeiten« verbergen, nicht mehr gerecht.
Die Verfügbarkeit stetig wachsenden Wissens, in relevanten Handlungsbezügen umgesetzt, ist unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Kompetenzen. Dieses Wissen muss selektiv in umfassende Wertebezüge eingeordnet werden, wenn ein Mensch sich orientieren und zwischen unterschiedlichen Werten entscheiden will, zum Beispiel zwischen sozialisationsbedingten Werten oder Einstellungen seiner Herkunftsfamilie und Werten, die in der Ausbildung vermittelt werden.
Dabei entsteht Handlungsfähigkeit, die nicht nur selbstorganisiert ist und über einen breiteren Wissensrahmen verfügt, sondern auch erprobte Handlungsabläufe und bereits erworbene Fähigkeiten – nämlich integriertes Wissen und Werte aus zurückliegenden Handlungsabläufen – miteinander verknüpft und sie so zu einer neuen Handlungskompetenz werden lässt. Entscheidend hierbei ist, dass nicht allein personale Kompetenzen in die neue Handlungskompetenz einfließen, sondern dass diese ihrerseits zum Bestandteil der kompetenten Persönlichkeit wird.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kompetenzen von Wissen untermauert, durch Werte begründet, als Fähigkeiten eingesetzt, durch Erfahrungen gesichert und erst durch Willensentscheidungen verwirklicht werden. Bezieht man dieses Verständnis von Handlungskompetenz auf die Erzieherinnenausbildung, könnte man sie mit dem Balancieren auf einem Schwebebalken vergleichen: Zu Beginn der Ausbildung steigt die Schülerin auf den Schwebebalken und wird, wenn sie darüber balanciert, von allen Seiten mit Wissen, alten und neuen Erfahrungen, Werten, Fertigkeiten und Fähigkeiten, den eigenen Motiven und dem eigenen Willen konfrontiert und dadurch immer wieder aus dem Gleichgewicht ge-bracht. Indem die Schülerin es schafft, ihre Balance wiederzufinden und Schritt für Schritt weiterzugehen, erweitert sie ihre Handlungskompetenz, die in ihre Persönlichkeit integriert wird. Am Ende hüpft eine um etliche Handlungskompetenzen bereicherte Schülerin vom Schwebebalken – egal, ob mit einem Salto oder einem leicht verwackelten Schlusssprung.2 Kompetenzen ermöglichen es dem Individuum, zum Produzenten seiner eigenen Entwicklung zu werden und einer »offene Zukunft« so kreativ wie produktiv entgegenzugehen.
Bei der Grundausbildung von Erzieherinnen kommt es folglich nicht – wie häufig angenommen – auf eine enge fachliche Ausbildung an, sondern vielmehr auf das Sowohl-als-auch. Die direkte Kommunikation mit Expertinnen, die den Fokus auf methodische Aspekte wie das Lernen des Lernens, auf sozial-kommunikative und personelle Aspekte wie die Bildung langfristiger Ideale und die ständige Reflexion von Einstellungen und Werten legt, ist gemäß obiger Definition von Handlungskompetenz ebenso bedeutend. Nach mehr »Wissen« und »Fachlichkeit« durch die Einführung frühpädagogischer Studiengänge zu rufen – und sei es auch noch so laut –, führt nicht zu mehr Kompetenz der Fachkräfte. Das steht bereits fest.
Die DQR-Arbeitsgruppe »Qualifikationsprofil Fachschule/Fachakademie« benennt eine Reihe von Kompetenzen, die in ihrer Gesamtheit zu umfassender Handlungskompetenz führen sollen. Dazu gehören auch Kompetenzen, die der »Professionellen Haltung« zugeschrieben werden, zum Beispiel: das Verfügen über demokratische Verhaltensweisen und Toleranz. Natürlich beruft sich die Arbeitsgruppe auf den Kompetenzbegriff des DQR, der in seiner Definition die Aspekte »Werte« und »Einstellungen« jedoch ausklammert. Das DQR definiert Kompetenz als »die Fähigkeit und Bereitschaft, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten in Arbeits- oder Lernsituationen und für die berufliche und persönliche Entwicklung zu nutzen«.
Individuelle und ethische Persönlichkeitsmerkmale wie Zuverlässigkeit, Genauigkeit oder Toleranz und demokratische Verhaltensweisen werden nicht berücksichtigt. Sie lassen sich – trotz der großen Bedeutung, die ihnen auch nach Aussage des DQR zukommt – nicht qualitativ erfassen, da der »DQR Qualifikationen und nicht die individuellen Lern- und Berufsbiografien« abbildet.
An dieser Stelle widersprechen sich die beiden Arbeitsgruppen, obwohl sie einander zuarbeiten sollen. Während die DQR-Arbeitsgruppe »Qualifikationsprofil Fachschule/Fachakademie« ethische Persönlichkeitsmerkmale sehr wohl zur umfassenden beruflichen Handlungskompetenz zählt, tut der DQR dies nicht und klammert dadurch einen Aspekt aus, der nach obiger Definition von Kompetenzentwicklung notwendig und wesentlich ist.
Sollen die von der DQR-Arbeitsgruppe benannten Kompetenzen sinnvoll sein, müssen sie über die Kompetenzbiografieforschung von Erzieherinnen gefestigt und auf ihre Vollständigkeit überprüft werden. Diese Forschung wirft nämlich die Frage auf, wie sich Kompetenzen von Erzieherinnen herausbilden und wie man diese Erkenntnisse für die Aus- und Weiterbildung nutzen kann.
Eine der komplexesten Aufgaben wird sein, Kompetenzentwicklung wirklich zu messen und zu bewerten. Bislang werden überwiegend Klausuren geschrieben, Referate gehalten und Projekte bewertet. Das heißt: Letztlich wird nur »Wissen« und »Können« mit überwiegend quantitativen Methoden bewertet, und die vorhandenen Methoden reichen dafür weder in der Fachschule/Fachakademie noch in der BA-Ausbildung aus. Zwar fordert der DQR kompetenzorientierte Prüfungen, gibt aber bislang keine methodische Antwort auf die Frage nach dem Wie. Doch Kompetenzen zu messen muss gelernt sein, wenn die Messung den gängigen Standards entsprechen und Aussagekraft haben soll.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/10 lesen.