Mosaiksteine aus einer fernen Bildungslandschaft
Die Fortbildnerin Sibylle Haas lebte drei Monate lang in Neuseeland, hatte viele Kontakte mit Kolleginnen dort, besuchte zehn Kindergärten, drei Schulen und lernte einen Teil des neuseeländischen Bildungssystems kennen. In einer Beitragsserie berichtet sie über ihre Erlebnisse, richtet den Blick sozusagen vom anderen Ende der Welt auf die hiesige Bildungslandschaft und möchte neue Perspektiven eröffnen. In einem Interview gibt Sibylle Haas Auskunft über die Vorgeschichte ihrer Reise.
Wie bist du auf die Idee gekommen, nach Neuseeland zu reisen? War das eine Dienstreise?
Nein, ich wollte einfach mal raus aus meinem Trott. Seit über 35 Jahren Berufstätigkeit brauchte ich mal Abstand zum Alltag, wollte andere Menschen kennenlernen und eine andere Kultur, mich an der wunderschönen Natur erfreuen und Anstöße für neue Gedanken erhalten.
In Israel soll jeder Mensch, der im sozialen Bereich arbeitet, alle sieben Jahre die Möglichkeit haben, etwas Anderes zu tun, um Kraft zu tanken, habe ich mal gehört. Bei uns haben nur Professoren und Pfarrer das Privileg der Forschungs- oder Studiensemester. Der Berliner Tarifvertrag – seit 2004 bekommt jeder Angestellte im öffentlichen Dienst 8 bis 12 Prozent weniger Gehalt und als Ausgleich dafür ein Freizeitkonto – hat das sozusagen auch mir ermöglicht. Und natürlich meine wohlwollende Geschäftsleitung.
Neuseeland ist schön weit weg. Um die halbe Erdkugel musste ich reisen, 24 Stunden Flugzeit. Mein Englisch reichte aus, um mich gut zu verständigen; ich wollte ja nicht wie eine Touristin herumreisen, sondern ein bisschen tiefer in das Leben dort eintauchen.
Ich wusste, dass der Elementarbereich in Neuseeland dem unsrigen in der Entwicklung um zehn Jahre voraus ist. Das hatte das Deutsche Jugendinstitut in München festgestellt, durch dessen Arbeit und Kontakte die neuseeländischen Bildungs- und Lerngeschichten bei uns Einzug hielten.
Zehn Jahre weiter? Das macht neugierig. Was machen sie in Neuseeland anders?
Das wollte ich herausfinden. Und: Wie kam es dazu, was können wir uns abgucken?
Abgucken können wir uns hierzulande sicherlich der Stellenwert, den frühkindliche Erziehung in Neuseeland hat. »Als erstes Land der Welt ordnete Neuseeland 1986 die administrative Zuständigkeit für alle Kindertageseinrichtungen dem Bildungssystem zu und führte 1987 für pädagogische Fachkräfte eine integrierte Ausbildung mit Diplomabschluss ein.«
Ende der 1970er Jahre gab es bei uns eine starke Frauenbewegung, die hauptsächlich auf die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen und die Qualität staatlich geförderter Früherziehung zielte. In der Zeit davor betrachtete man in Westdeutschland Kindergärten als Notlösung für die Kinder berufstätiger Mütter.
Und weil wir gerade Geschichte rekapitulieren: In Neuseeland wurde 1893 das Frauenwahlrecht eingeführt. In Deutschland erst 1919.
Aktuelle Nachrichten machen mir jedoch Sorgen. Ich habe erfahren, dass die im September 2008 gewählte neue konservative Regierung in Neuseeland jetzt Vieles in Frage stellt. das unter der sozialdemokratisch-grünen Regierung bis dato möglich war. Es werden Gelder für Fortbildung und Forschungsprojekte mit Kitas gestrichen, die sich bislang als Centers of Innovation bewerben konnten. Wahrscheinlich wird Begabtenförderung und Eliteforschung jetzt finanziert. Das kommt uns bekannt vor, oder?
Jawohl, das kommt uns bekannt vor. Aber lass uns trotzdem nach Neuseeland zurückkehren: Was hat dich an der Kita-Praxis interessiert?
Besonders die Lerngeschichten interessierten mich.
Unser Träger, der Eigenbetrieb Kindertagesstätten Nordwest in Berlin, hatte die Bildungs- und Lerngeschichten als Form der Dokumentation von Lernergebnissen übernommen. Ich finde es faszinierend, das, was Kinder tun und wie sie sich entwickeln, in einer für sie verständlichen Form darzustellen. Die Geschichten regen Gespräche zwischen Kindern, Erzieherinnen und Eltern an, und es wird sehr anschaulich nachvollziehbar, was in der Kita passiert.
Margret Carr entwickelte mit Helen May von 1989 bis 1991 das Curriculum für die frühe Kindheit »Te Whaariki« für ganz Neuseeland. Mit Erzieherinnen aus der Praxis wurde es ausführlich diskutiert, bevor es verabschiedet wurde. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass Lernen in einem sozial-kulturellen Zusammenhang stattfindet. Alles andere leitet sich daraus ab.
Bevor ich nach Neuseeland fuhr, war mir nicht wirklich klar, was für eine Dimension es hat, wenn im Curriculum steht, dass die »wechselseitigen und aufeinander reagierenden Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Dingen« hervorgehoben werden sollen. Ich dachte: Sicher, gelernt wird immer im sozialen Kontext. Aber welche Bedeutung das hat, dass das Wie des Lernens im Verhältnis zum Was so wichtig ist, das war mir nicht bewusst.
Es kommt darauf an, in welchem sozialen Zusammenhang und in welcher Atmosphäre gelernt wird. Wie das in einem Lehrplan verbindlich festgehalten und mit Arbeitshilfen unterstützt wird – das nachzuvollziehen ist sehr spannend, gerade weil bei uns die Verschulung von Kindergärten droht.
In Neuseeland schließt der Lehrplan für die Grundschulen seit dem Jahr 2007 nahtlos an die Schlüsselkompetenzen zum Lernen im sozialen Kontext an. In dieser Gewichtung des Wie vor dem Was liegt inzwischen für mich der Hauptunterschied im Verhältnis zu Deutschland, nicht nur im Kindergarten, sondern im gesamten Bildungsbereich.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09/09 lesen.