In einer Folge von vier Beiträgen stellt Elisabeth C. Gründler die Grundlagen der Arbeit Emmi Piklers vor. Ihre Serie begann in Heft 8-9/08 mit dem Beitrag »Wickeln im Stehen«.
Was ist schon Besonderes am aufrechten Gang? Menschen gehen normalerweise auf zwei Beinen – es sei denn, sie sind zu jung oder zu alt, zu krank oder behindert.
Für Anthropologen ist der aufrechte Gang das Kennzeichen des Menschseins. Der Mensch ist das einzige Säugetier, das sich auf zwei Beinen fortbewegt und so zwei Gliedmaßen frei hat, um damit seine Umwelt zu gestalten. Der Homo erectus – wörtlich: der aufgerichtete Mensch – ist dasjenige Vorläufermodell des modernen Menschen, bei dem die Wissenschaft sich einig ist, dass es schon ganz und gar Mensch war.
Den »aufrechten Gang« als politischen Begriff prägte im 20. Jahrhundert der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der 1961 von Leipzig nach Tübingen floh, um Repressionen in der DDR zu entgehen. Ein Mensch mit »aufrechtem Gang«, so Bloch, bedient sich seines Verstandes, begegnet den Regierenden auf Augenhöhe, mischt sich ein und übernimmt Verantwortung.
Während die Anthropologie Entwicklungszeiträume von Jahrmillionen untersucht, erforschte die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler den Prozess des Aufrichtens im Kindesalter, der je nach Entwicklungstempo länger als zwei Jahre dauern kann.
Das Beispiel Maria
Das Mädchen, 18,5 Monate alt, sitzt aufrecht, im Knie-Händestütz, am obersten Rand einer steinernen Treppe. Eine Situation, in der ich als Mutter mein Kind sofort in Sicherheit gebracht hätte. Dies ist auch heute noch die spontane Reaktion der Mehrheit aller Eltern und Profis. Anders Emmi Pikler. Im Oktober 1966, als diese Aufnahme entstand, hatte die Kinderärztin die Bewegungsentwicklung von Kleinkindern schon fast 40 Jahre lang erforscht. Ihre These, dass jedes Kind sich aus eigener Kraft aufrichtet, zum Sitzen, zum Knien, zum Stand und schließlich zum aufrechten Gang, formulierte sie bereits Ende der 1920er Jahre. Sie überprüfte sie 1931/32 zunächst am eigenen Kind – und fand sie bestätigt.
Ein Kind braucht keine Hilfe beim Aufrichten, indem es hingesetzt, in seinem Gleichgewicht gestützt oder an der Hand geführt wird. Ein gesundes Kind, das satt und wach ist, das sich in einer vertrauensvollen Beziehung zum Erwachsenen gehalten weiß, interessiert sich für seine Umgebung und will sie erforschen. Es ist neugierig, interessiert und folgt dem Impuls, sich Gegenständen anzunähern, sie zu sich heranzuziehen und zu untersuchen. Es beginnt, zielgerichtet zu greifen. Dabei verändert es seine Position im Raum. Es verlässt sein Gleichgewicht in der Rückenlage, dreht sich auf den Bauch und um die eigene Achse, rollt sich schließlich durch den Raum. Dabei entdeckt es immer neue Perspektiven und Möglichkeiten. Es erlebt die Bewegung aus eigener Kraft als überwiegend lustvoll, weil es seinen Horizont erweitert. Schließlich beginnt das Kind, sich hochzuziehen. Es robbt, kriecht und krabbelt, kniet sich hin und richtet sich auf. Dabei findet es in jeder Position sein Gleichgewicht und lernt schließlich den aufrechten Gang. All diese Entwicklungsschritte – so hat Emmi Pikler über Jahrzehnte beobachtet und dokumentiert – unternimmt jedes gesunde Kind aus eigenem Impuls und eigener Anstrengung.
Gesunde Kinder brauchen unterschiedlich lange bis zum selbstständigen Gehen: zwischen elf und 22 Monate. Für ihr späteres Fortkommen im Leben, fand Pikler heraus, ist es vollkommen unerheblich, ob Kinder den aufrechten Gang früher oder später meistern. Wird ihnen die Zeit gelassen, sich ihre Bewegungen aus eigener Kraft zu erarbeiten, wagen sie Neues immer erst dann, wenn sie sich in den bereits bekannten Bewegungen und Positionen vollkommen sicher sind.
Maria entscheidet
Gestützt auf Hände und Knie schaut das Mädchen vertrauensvoll in die Welt. Sein Gesicht spiegelt entspannte Freude. Es könnte bleiben, wo es ist. Niemand lockt es oder fordert es heraus, sein Gleichgewicht am Rand der Treppe zu verlassen. Es ist Marias eigene Entscheidung, das Experiment zu wagen. Vorsichtig betastet das Kind mit den Fingerspitzen die Stufe. Es erkundet den Höhenunterschied. Damit hat das Mädchen bereits Erfahrung. Im Spielbereich, in dem es sich täglich aufhält, gibt es hölzerne Podeste, etwa 14 Zentimeter hoch. Maria hat sich oft daran hochgezogen, ist darauf gekrochen und darüber gekrabbelt. Mit der ganzen linken Hand stützt sie sich nun auf die Stufe. Ihr Körperschwerpunkt befindet sich noch oben, sie liegt jetzt auf dem Bauch. Die Gefahr, zu fallen, besteht nicht. Noch kann Maria in ihre Ausgangsposition zurückkehren.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/08 lesen.