Das Konzept »Gleiches Material in großer Menge«
Mathematik und Kreativität sind Bereiche, die nicht jeder gleich miteinander in Verbindung bringt. Vielen Erwachsenen erscheint es illusorisch, Mathematik mittels gestaltenden Tätigseins und eigener Ideen selbst produzieren zu können. Doch der Titel »Kinder erfinden Mathematik« ist ernst gemeint. Er fasst zusammen, was passiert, wenn kleine und große Menschen passende Werkzeuge – zum Beispiel einen Beutel voller 1-Cent-Stücke – in die Hände bekommen. Sie beginnen nämlich, ihre Fantasie spielen zu lassen und die vielen Teilchen neu zu ordnen.
Im folgenden Beitrag – ein Auszug aus dem in Kürze erscheinenden Extra-Heft gleichen Titels – beschreibt Kerensa Lee, was passieren kann, wenn Hunderte Cents auf dem Tisch liegen, und was daran Mathematik ist.
Bei »Kinder erfinden Mathematik« gibt es keine vorgegebenen Aufgaben, sondern erst einmal nur das Gestalten und damit das eigene Erleben. Augen und Hände werden gebraucht, um aus dem Vollen zu schöpfen, Formen zu erkennen, sie umzubilden.
Zu Hunderten oder gar Tausenden präsentiert, verlieren kleine und gleiche Gegenstände wie bunte Eislöffel, Becher, Quadratfliesen, Schraubmuttern, Holzwürfel oder 1-Cent-Stücke ihre eigentliche Funktion. Tausend Eislöffelchen verführen eher zum Anfassen als zum Eisessen. Neben dem taktilen Reiz, den solche ungeordneten Ordnungen auslösen, entsteht ein innerer und äußerer Dialog der Fantasie und des Strukturierens. So zeigen sich beim freien Arbeiten mit gleichem Material in großer Menge typische Handlungsmuster und mathematische Motive – und zwar unabhängig vom Alter der Menschen, die sich mit dem Material beschäftigen. Auch Erwachsene können das bei sich selbst beobachten.
Was passiert, wenn Hunderte Cents auf dem Tisch liegen?
Zehn Vorschulkinder sitzen an einem mit weißem Papier bedeckten Tisch. Ein Kind öffnet den vollen Beutel, der auf dem Tisch liegt, und schüttet vorsichtig einige Tausend 1-Cent-Stücke auf die Tischplatte.
Die erste Präsentation
Die Präsentation ungewohnt großer Mengen erzielt bei kleinen und großen Menschen zunächst einen Überraschungseffekt. Der Anblick zahlreicher Münzen löst immer wieder Freude und Erstaunen aus, und das akustische Wahrnehmen rieselnden Geldes verstärkt diesen Eindruck. Deshalb lohnt es sich, sich Zeit zu nehmen und die Präsentation bedächtig durchzuführen.
Beim ersten Betrachten einiger Tausend auf dem Tisch liegender 1-Cent-Stücke wechselt unsere Aufmerksamkeit immer wieder vom ungeordneten Ganzen zu Teilmengen und zu Eigenschaften einzelner Münzen. Innerhalb von Sekunden sehen wir die Kontur der ganzen Menge, vergleichen die unterschiedlichen Anhäufungen innerhalb der Menge, finden höchste Punkte. Unsere Augen wandern über gesondert liegende Cents. Je nach Lichteinfall stechen glänzende Münzen hervor. Daraufhin werden auch besonders dunkle Münzen und weitere Schattierungen sichtbar.
Die Unordnung vieler gleicher Teilchen löst bei allen Menschen zunächst einen taktilen Reiz aus. Erste Aktionen werden oft von impulsiven Bewegungen mit den Händen, Armen oder sogar dem Oberkörper geprägt. Die gesamte Geldmenge wird bewegt. Es wird geschoben, zerteilt, zusammengeschoben. Größere Teilmengen – manchmal sogar die gesamte Menge – werden zeitweise von einzelnen Beteiligten in Beschlag genommen, also zusammengerafft, aber bald und fast immer freiwillig wieder in die Tischmitte bewegt.
Dieses Umformen der ganzen Menge, oft mittels kreisender Bewegungen, dauert – je nach Gruppe – unterschiedlich lange. Während Erwachsene sich nur sekunden- oder minutenlang damit befassen, wird die große Menge als Ganzes für Kinder bis zu fünf Jahren zum Zentrum zahlreicher Handlungen. Dies wird zum Beispiel beim ausdauernden Umfüllen von Münzen in Becher sichtbar.
Erste Handlungsmuster und mathematische Motive
Das Teilen der großen Menge in zwei gleiche Hälften stellt häufig eine erste zielgerichtete Umstrukturierung dar. Mathematische Motive, die für das gestaltende Tätigsein mit gleichem Material typisch sind, kündigen sich bereits in dieser ersten Phase des Handelns an:
- das Verwerten der Cents: Eine Münze steht für die Zahl 1;
- das Bilden von Linien, Flächen, Mittelpunkten und Symmetrien;
- das Legen von Modellen – zum Beispiel Grundrisse – und von größtmöglichen Objekten.
Eine interessante und auch bei Kindern unter vier Jahren oft zu beobachtende Aktion, wenn sie dem Material erstmalig begegnen, ist das vollständige Plätten des Geldberges. Unbewusste Ziele dabei sind offenbar:
- das Bilden einer größtmöglichen Fläche,
- das Sichtbarmachen jeder einzelnen Münze als Ganzheit, also ohne Überlappung.
Die große Menge ist nicht länger ein Körper aus ungeordneten Teilchen. Sie wird zu einer Fläche, und in den Fokus rückt die Münze als Kreis.
Beim Beobachten von Menschen, die nur ihre Hände arbeiten lassen, also keine konkreten Instruktionen oder Anregungen bekamen, wirken manche dieser typischen Handlungsmuster besonders eindrücklich: Gemeinsam wird gezielt an den Rändern geschoben und versucht, eine kreisförmige oder zumindest ovale Fläche zu bilden. Kinder legen dann oft mit kreisenden Handflächen oder Fäusten die Mitte der Fläche frei, so dass ein leerer Innenkreis entsteht. Durch Schieben oder erstmaliges Greifen einzelner Münzen mit den Fingerspitzen wird die leere Mitte gern mit weiteren Innenkreisen und weiteren Mitten ausgestattet – jeweils in Form einer einzelnen Münze oder eines Turms. Ein solch rundes Mitte-Objekt kann bereits eine erste mathematische Eigenproduktion darstellen.
Sobald nicht mehr die Menge interessant ist, sondern die einzelnen Elemente im Fokus stehen, werden Modelle gelegt und gebaut, Stapel gebildet, Vielecke und Figuren konstruiert oder Sortierungen vorgenommen. Typische erste Legeobjekte sind:
- der Baum;
- die Blume;
- das Kreuz;
- das Zelt;
- das Herz;
- die Sonne;
- eine Spirale;
- das Haus;
- Geläufige Zeichen, Namen oder Ziffern;
- bei Erwachsenen auch das Sechseck oder die Raute.
Es entstehen Türme, möglichst hohe oder mehrere in gleicher Höhe, in unterscheidbaren, noch unsortierten Höhen oder als geordnete, treppenartige Gebilde.
Wer mit den einzelnen Münzen nicht in die Höhe geht, sondern in der Fläche bleibt, bildet zunächst einfache geometrische Formen, einfache Figuren oder Zeichen ab.
Richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Kreisform der Münze, entstehen geometrische Gebilde. Dabei werden Kreise nicht nur als runde Teilchen wahrgenommen. Sie lassen sich auch zu Linien und damit zu Konturen von Formen und Figuren zusammenfügen.
Rücken die Münzen hingegen als Repräsentanten für die Zahlen in den Vordergrund, entstehen andere Themen:
- das Zählen;
- das Bilden von Mengen;
- das Bündeln;
- der Alltagsbezug zum Geld;
- die Einheiten des Geldes, zum Beispiel: 100 Cent gleich ein Euro.
Neben dieser Fokussierung auf Geometrie oder Arithmetik – also die Münze als Kreis oder als Repräsentant für die Zahl 1 – hängt das weitere Vorgehen natürlich auch von den Ideen, den Handlungen und den angefertigten Objekten der anderen Gruppenmitglieder ab.
Mathematische Motive mit Münzen
- Alltagsbedeutung: Geld als Wert (100 Cent = 1 Euro);
- Mengenbildungen durch unterschiedliche Einheiten: 2er-, 3er-, 4er-, 5er-, 6er-, 10er-Bündelungen;
- die Einheit 10;
- sichtbare und messbare Eigenschaften wie Höhe oder Gewicht.
Viele Dinge, die Kinder automatisch mit Cents tun, tragen mathematischen Charakter:
- Sortieren nach Vorder- und Rückseiten;
- Sortieren nach Prägungen, zum Beispiel: Länder, Jahre;
- Sortieren nach Alltagsfärbungen: neu/hell, abgenutzt/dunkel;
- Bilden von Kreisen, Säulen, Punkten, Mitten, Linien, Flächen, Körpern: zum Beispiel Pyramiden, Quader, Würfel;
- Legen von Konturbildern;
- Legen von gefüllten Flächen: zum Beispiel ein reguläres Dreieck;
- Legen von geometrischen Formen: zum Beispiel reguläre Vielecke;
- Legen von Figuren zu Themen aus der realen oder einer fiktiven Welt;
- Legen von Symbolen: zum Beispiel Zahlen, Buchstaben, bekannte oder erdachte Zeichen.
Erste Objekte mit Cents: der »Königinweg«
Meral, sieben Jahre alt, arbeitet zum zweiten Mal mit Cents. Im Mathematikraum ihrer Schule stellt sie innerhalb von knapp 30 Minuten mit 157 besonders glänzenden 1-Cent-Stücken eine erste freie mathematische Eigenproduktion her: der »Königinweg«.
Das Zusammenspiel der Aspekte Bedeutung und Form (äußere Struktur) ist für diese Art des Gestaltens zentral:
- der Aspekt Bedeutung: Ein Cent-Stück mit niederländischer Prägung ist die Königin. Fünf weitere sortierte Münzen mit ausländischer Prägung sind das Gefolge. Ein gelber Pappstreifen ist der rote Teppich. Die vielen Münzen mit deutscher Prägung sind das Volk;
- der Aspekt Form: Der Pappstreifen als Rechteck ist mit 1-Cent-Reihen gerahmt. Die nach Prägung aussortierten Cents sind achsensymmetrisch angeordnet. Die sortierte Königin-Münze bildet den Mittelpunkt.
Aus einem Beutel mit etwa 3.000 Ein-Cent-Stücken wählt Meral in der ersten Arbeitsphase – eine Doppelstunde – die besonders glänzenden Münzen aus und versucht, die Anzahl durch ausgiebiges Zählen zu erfassen. Bei der Präsentation ihrer Sortierung stellt sich heraus, dass außer »sehr schön«, »ganz schön« und »Gold« in der Lerngruppe – zehn Kinder, 1. bis 3. Schuljahr – keine weiteren Adjektive zur Beschreibung gefunden werden. Der Begriff »glänzend« bewirkt bei den Kindern einen »Oh-ja-Effekt«.
Nicht nur bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ergeben sich häufig Schwierigkeiten, weil ihnen die passenden Wörter – und damit mögliche zu denkende Kategorien – fehlen.
Meral nimmt sich in der zweiten Arbeitsphase das Plastikschälchen mit den glänzenden Cents nochmals vor und beginnt mit dem Sortieren nach Prägungen der Rückseiten. Mit ihrer Freundin sortiert sie Cents mit ausländischen Rückseiten aus. Beide Mädchen erhalten von mir eine längliche, gelbe Pappe als Hilfsmittel zur Ablage der Münzen.
In der Menge von etwa 170 Münzen sind nur sechs ausländische dabei. Eine davon finden die Mädchen wegen des Kopfs besonders interessant. Sie entziffern: »Beatrix, Königin der Niederlande«. Das Angebot eines Hilfsmittels – hier die gelbe Pappe – gibt in Kombination mit der Münze »Königin« einen Impuls für die Gestaltung des Objekts.
Merals Freundin interessiert sich für das Merkmal »glänzend« und begibt sich zu dem Tisch mit der Ursprungsmenge einiger Tausend Münzen.
Meral arbeitet nun allein. Nach etwa 15-minütigem Legen verschiedener Anordnungen ist Merals erstes Objekt fertig. Sie kommentiert es mit: »Das ist ein Königinweg.«
Die niederländische Münze befindet sich selbstverständlich in der Mitte des Bildes. Die übrigen fünf »anderen Cents« liegen ebenfalls auf der gelben Pappe.
Nach einigen Minuten setzt Meral die Gestaltung des Objekts fort. Sichtbar wird nun ein klassisches Phänomen für das Erfinden mit großen Mengen:
Mit allen noch übrigen Münzen legt Meral nun Wege für das Volk. Sie beginnt rechts und legt auf der gegenüberliegenden linken Seite einen zweiten Weg an. Dafür wählt sie das Kriterium der exakt gleichen Münzenanzahl. Die optische Erfassung ergänzt sie durch die genaue Anzahlerfassung. Das gelingt durch schiebendes Umgruppieren einzelner Münzen – nacheinander von rechts nach links – und durch mehrfaches Abzählen beider Längen.
Meral hat Glück, denn: Wenn die übrigen Münzen nicht aus einer geraden, sondern einer ungeraden Anzahl bestehen, bleibt bei der Gleichverteilung vom rechten auf den linken Weg eine Münze übrig. Was macht eine Erfinderin mit einer solchen Münze?
Eine nächste, zufällige Umwandlung zeigt die weitere Abwandlung des Objekts in einer kurzen Sequenz: Als Meral das zu Beginn geleerte Plastikschälchen vom Fußboden auf den Tisch stellt, formt sich für sie die Bedeutung ihres Objekts »Königinweg« plötzlich um:
Innerhalb von Sekunden verwandelt sich Merals »Königinweg« – auch für den Betrachter – in einen Rumpf mit Kopf und Armen. Dies wird durch Merals erst erstaunte, dann amüsierte und schließlich nachdenkliche Mimik deutlich. Nach wenigen Augenblicken entfernt sie das Schälchen. Wahrscheinlich, um den »Königinweg« in ihrer Vorstellung wieder in den Vordergrund treten zu lassen.
Hilfsmittel: Ja oder nein?
Hilfsmittel ermöglichen Kindern nicht nur die Umsetzung einer Idee. Sie liefern auch Impulse, um Ideen und Vorhaben zu lenken. Aber sie werden mitunter selbst zum Werkzeug.
Wichtig ist daher die Frage, ob ein Hilfsmittel die Arbeit an einem Thema unterstützt oder sie verwandelt. Mitunter ist ein Hilfsmittel für ein Kind sinnvoll, bringt andere Kinder jedoch von der Verfolgung ihrer Pläne oder Themen ab.
Ein Rezept für den Einsatz von Hilfsmitteln gibt es nicht, denn: Lernbegleitung ist und bleibt ein Ausprobieren.
Mögliche weitere Vorgehensweisen:
- das freie Abbilden des Objekts auf Papier;
- die Präsentation mit Gespräch in der Gruppe;
- das Suchen von Zahlen, Formen und Besonderheiten im Objekt;
- das Finden von Veränderungen: Andere Kinder oder die Lernbegleiterin entfernen einzelne Münzen oder legen sie um.
www.helles-koepfchen.de
Mathematik bei den Indianern, Mathematik zum Anfassen, im Alltag, in der Philosophie, im Computer – wer in die Suchmaske »Mathematik« eingibt, findet nur Kindgerechtes zum Thema.
www.blinde-kuh.de
Ganz einfach und dennoch kompliziert? Wer bei der Kindersuchmaschine in der linken Navigation auf »1-2-3- Rechnen« klickt, lernt einiges über unsere Grundrechenarten. Tipp: Oben den Rechner benutzen.
www.kidoku.de
Kidoku ist eine kindgerechte Variante von Sudoku, bei der vier Bereiche mit den Zahlen von 1 bis 6 zu füllen sind (statt der neun Blöcke mit Zahlen von 1 bis 9). Gerechnet werden kann »online«, aber auch »gedruckt«.
www.junioruni-wuppertal.de
Seit 2008 bietet die Junior-Uni in Wuppertal Interessantes zu den Themen »Naturwissenschaft«, »Mathematik« und »Technik«. Das ganzjährige Kursprogramm enthält Kurse und Seminare für Kindergartenkinder, Grundschulkinder und Jugendliche ab 14 Jahren.
Kontakt
Kerensa Lee arbeitet als Konzeptgestalterin im Bereich Mathematik und Kunst. Zusammen mit dem Freinet-Pädagogen und Kunstliebhaber Anton Strobel entwickelte sie das Konzept »Gleiches Material in großer Menge«. Sie bietet Workshops und Seminare für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an.
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